Marie NDiaye

La vengeance m'appartient

Nach fünf Jahren hat Marie NDiaye 2021 wieder einen Roman veröffentlicht. Das Buch ist eine Wucht, ein Stück Literatur, das verstört und gleichzeitig bis zur letzten Seite fasziniert. Es geht um Selbst- und Fremdwahrnehmung, um Lebenslügen, um die Diskrepanz zwischen dem, was man sein möchte oder zu sein vorgibt und dem, was man im Innersten von sich selber weiss oder auch nur vage spürt. Das alles erklärt und kommentiert Marie NDiaye aber nicht, sondern erzählt eine Geschichte im Zusammenhang mir einem schwer nachvollziehbaren Mord. Mit scheinbarer Selbstverständlichkeit legt sie dabei das Unbewusste, Verdrängte offen, das mit Macht an die Oberfläche drängt, auch wenn es letztlich doch immer unfassbar bleibt.

Maître Susane, eine Anwältin in den Vierzigern hat vor kurzem ihr eigenes Bureau in Bordeaux eröffnet. Dieses läuft mehr schlecht als recht und so ist sie ziemlich erstaunt, als ein Klient auftaucht, der ihre Dienste für einen grossen Fall in Anspruch nehmen will, von dem sie schon aus den Medien erfahren hat. Gilles Principaux heisst der Mann und irgendwie kommt er ihr bekannt vor. Er weckt Erinnerungen an ein Erlebnis aus ihrer frühen Jugend. Als sie damals an einem schulfreien Tag ihre Mutter begleitete, die bei einer wohlhabenden Familie putzte, unterhielt sie sich hervorragend mit dem Sohn, ein paar Jahre älter als sie, mit dem sie den Nachmittag in seinem Zimmer verbrachte. Doch irgendwie ist die Erinnerung daran auch unangenehm. Was ist damals wirklich geschehen? Und hat dieser Principaux etwas damit zu tun? Wie hiess überhaupt die Familie damals? Alles Nachbohren bei ihren Eltern bringt sie nicht weiter, sondern verschlechtert nur die Beziehung zu ihnen.

Principaux jedenfalls scheint nichts von einer früheren Begegnung zu wissen und will, dass sie die Verteidigung seiner Gattin Marlyne übernimmt, zu der er steht, auch wenn sie die drei kleinen gemeinsamen Kinder umgebracht hat. Maître Susane besucht Marlyne im Gefängnis, spricht mit Principaux und bekommt zunehmend Einblick in eine toxische Beziehung, aus der Marlyne kein anderes Entkommen sah als ihre ungeheuerliche Tat. Die Gespräche mit den beiden Ehepartnern verdichten sich am Ende zu Monologen, die mit den ewig gleichen Bindewörtern eindringlich das Festgefahrene im Gedankenkarussell der beiden zum Ausdruck bringen: Marlyne fängt jeden Halbsatz mit "mais" an, Principaux mit "car".

Je länger sich Maître Susane mit dem Fall beschäftigt, desto mehr gerät ihr eigenes, eigentlich ziemlich langweiliges Leben aus den Fugen. Sharon, die papierlose Mauritierin, deren Aufenthaltsstatus sie legalisieren will und die sie gleichzeitig als Putzfrau bezahlt, obwohl es bei ihr wenig zu putzen gibt, entzieht sich ihr zunehmend. Nachdem Maître Susane Sharon zur Rede gestellt hat, weil diese in der gleichen Zeit auch bei anderen Leuten putzen geht, findet sie am Abend ein mehrgängiges exquisites Luxusmenu vor. Maître Susane vertilgt das Essen trotz mangelndem Appetit. Als weltoffene, aufgeschlossene Frau, als die sie sich sieht, muss sie Sharon zeigen, dass sie die Entschuldigung annimmt. Als sie dann aber vernimmt, dass eine von Sharons neuen Klientinnen Madame Principaux heisst, schleicht sich das Unheimliche endgültig in ihr Leben ein.

In diesem eigentümlich leeren Leben – bezeichnenderweise erfahren wir nicht einmal den Vornamen von Maître Susanne – gibt es noch Rudy, den ehemaligen Freund, und dessen Tochter Lila, die sie gelegentlich trifft. Sie mag das kleine Mädchen und manchmal spielen sie auch Familie, obwohl sie sich nie entschliessen konnten, eine verbindlichere Beziehung einzugehen. Als Rudy eine Betreuung für seine Tochter braucht, schlägt Maître Susane vor, dass Sharon sie hütet. Doch auch da schleichen sich bald Zweifel ein, Unsicherheiten, ein vager Verdacht. Lila und Sharon scheinen es gut zu haben zusammen, aber ist der Ausdruck von Lila nicht merkwürdig starr und verschlossen? Und warum findet Sharon immer eine Ausrede, statt ihr das Heiratszertifikat zu bringen, das sie doch für die Legalisierung braucht? Bei einem Aufenthalt bei Sharons Familie auf Mauritius, wo sich Maître Susane nach einem Zusammenbruch erholen will, klärt sich einiges. Doch anderes bleibt rätselhaft – wie im Fall von Marlyne, wo Maître Susane ihr Plädoyer mit den Worten abschliesst: "… et si je me trompais?"

Marie NDiaye mutet den Lesenden einiges zu, zeigt die oft unerklärlichen Abgründe des Unbewussten, über denen wir unser Selbstverständnis aufbauen. Wenn es zum Schluss für Maître Susane zu einem sehr verhaltenen guten Ende kommt, ist das vielleicht auch, weil sie erkennt, dass diese letztliche Unfähigkeit, sich selber und andere in ihrem Innersten zu verstehen, zur Conditio humana gehört. Aber vielleicht täusche ich mich? Elisa Fuchs

Klappentext:

Me Susane, quarante-deux ans, avocate récemment installée à Bordeaux, reçoit la visite de Gilles Principaux. Elle croit reconnaître en cet homme celui qu'elle a rencontré quand elle avait dix ans, et lui quatorze — mais elle a tout oublié de ce qui s'est réellement passé ce jour-là dans la chambre du jeune garçon. Seule demeure l'évidence éblouissante d'une passion. Or Gilles Principaux vient voir Me Susane pour qu'elle prenne la défense de sa femme Marlyne, qui a commis un crime atroce ... Qui est, en vérité, Gilles Principaux?

Über die Autorin / über den Autor:

Marie NDiaye a obtenu le prix Femina en 2001 et le prix Goncourt en 2009. Son dernier roman, La Cheffe, roman d'une cuisinière, a paru en octobre 2016 aux Editions Gallimard.

Preis: CHF 32.80
Sprache: Französisch
Art: Broschiertes Buch
Erschienen: 2021
Verlag: Gallimard
ISBN: 978-2-07-284194-1
Masse: 232 S.

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