Ibtisam Azem

Das Buch vom Verschwinden

Dieser 2014 in arabischer Sprache erschienene Text der palästinensischen Autorin Ibtisam Azem wurde von Sinan Atoon ins Englische übertragen und mit einem Nachwort versehen. In einem Interview mit der Zeitschrift Arts & Culture (2019) bezeichnet die Autorin Das Buch vom Verschwinden (englisch: The Book of Disappearance) als "fantasy fiction", weil sie in diesem Text der Vorstellung nachgehe, was ein plötzliches Verschwinden der Palästinenser:innen in Israel bedeuten könne. Als eines Morgens die palästinensischen Arbeiter:innen nicht an ihren Arbeitsplätzen erscheinen, erhebt sich ein Stimmengewirr, um das Geschehen zu verstehen und zu deuten, gerät der routinierte Alltag in Tel Aviv ins Wanken. Die Menschen warten vergebens auf die Busse, die Plantagenbesitzer auf die Erntehelfer:innen und die Schüler:innen auf ihre Lehrpersonen. Die Menschen können sich nicht erklären, was passiert ist. Sie stellen Mutmassungen an, streuen Gerüchte oder entwickeln Verschwörungstheorien. Die Gerüchteküche in Tel Aviv beginnt zu brodeln.

Mittendrin Ariel und Alaa, zwei junge Männer, die in Tel Aviv arbeiten und miteinander befreundet sind. Sie leben im gleichen Gebäude, haben eine gemeinsame Lieblingskneipe und sind dabei, eine Firma zu gründen. Politisch nehmen sie gegensätzliche Positionen ein, aber es hat den Anschein, als würde das ihre Freundschaft nicht beeinträchtigen. Alles scheint normal, bis zu dem Tag, als auch Alaa verschwunden ist. Da zeigt sich, dass die Decke der Freundschaft dünn war. Ariel ist zwar auch verwundert über das Verschwinden seines Freundes, richtet sich aber schnell in der neuen Situation ein. Wie er das macht, das sei hier nicht verraten. Es ist auf alle Fälle ein Hinweis auf die Lösung des Rätsels über das Verschwinden der Palästinenser:innen. 

Es ist der grossartigen Erzählkunst der Autorin geschuldet, dass sich ihre Geschichte nicht in der Logik von Opfer/Täter, Freund/Feind verfängt. Sie verleiht jeder Stimme ein besonderes Gewicht, ohne dabei ihre Sympathie für bestimmte Stimmen zu verbergen. Es ist dieses ausgewogene und differenzierte Erzählen, das diesen Text zu einem spannenden Leseerlebnis macht. Angesichts der aktuellen Politik in Israel kann dieser Text als hellsichtig vorausschauend bewertet werden. Wenn die neuen politischen Pläne der israelischen Regierung umgesetzt werden, dann kann dem Das Buch vom Verschwinden ein weiteres Kapitel hinzugefügt werden. Doris Gödl

Klappentext:

Ariel, der Journalist, und Alaa, der Freelance-Kameramann, leben im selben Wohnhaus in Tel Aviv. Beide sind sie Israelis, Ariel jüdischer und Alaa palästinensischer Herkunft, beide lieben ihre Heimatstadt, in der sie aufwuchsen und Freunde geworden sind. Eines Morgens sind im ganzen Land die Palästinenserinnen und Palästinenser verschwunden. Der gesellschaftliche Verlust ist sofort spürbar, die Verwirrung riesengross. Es fahren keine Busse mehr, im Spital fehlen Ärzte, der beste Hummusladen bleibt geschlossen. Handelt es sich um einen Generalstreik, einen geplanten Angriff? Oder gar um ein Wunder Gottes zur Rettung Israels? Auf der Suche nach Alaa findet Ariel in dessen Wohnung ein rotes Notizbuch, die Lebensgeschichte von Alaas Grossmutter. Er nimmt sich vor, die Aufzeichnungen ins Hebräische zu übertragen und eine Chronik der Zeit vor dem Verschwinden zu verfassen.

Ibtisam Azem gelingt ein eindrückliches, originelles Plädoyer wider das Vergessen und für ein friedliches Zusammenleben.

Über die Autorin / über den Autor:

Ibtisam Azem, geboren 1974 in Tayyibe (Israel), ist eine palästinensische Autorin und Journalistin. Sie studierte in Freiburg i.Br. Islamwissenschaften, Germanistik und Anglistik sowie in New York Sozialarbeit. In Berlin arbeitete sie für die Deutsche Welle. Seit 2012 lebt Ibtisam Azem in New York, wo sie als UNO-Korrespondentin für das Nachrichtenportal al-Araby al-Jadeed tätig ist. Sie ist Mitherausgeberin des Onlinemagazins Jadaliyya und hat zwei Romane veröffentlicht.

Preis: CHF 25.00
Sprache: Deutsch (aus dem Arabischen von Joël László)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2023 (2014)
Verlag: Lenos
ISBN: 978-3-85787-839-8
Masse: 272 S.

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