Mit den Erzählungen von Isak Samokovlija habe ich eine mir bis anhin unbekannte Welt betreten. Der Autor (1889-1955), ein aus einer sephardischen Familie stammender Arzt und Schriftsteller, erzählt aus dem Leben orthodoxer Juden in der Stadt Sarajevo und Umgebung. In dieser Gegend hatten sich 1565 aus dem christlich-katholischen Spanien vertriebene Juden angesiedelt und dort eine wichtige sephardische Gemeinde gebildet. Samokovlijas Geschichten spielen in der Zeitperiode zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Der Leser verfällt schnell dem Zauber des Erzählten. Mit realistischem Blick auf das bescheidene und oft entbehrungsreiche Leben der Protagonisten schildert der Autor die äusseren Umstände, in welche die Menschen verwickelt sind, und beschreibt die tragischen und leidvollen Auswirkungen auf das Innenleben, die Seele, seiner Hauptfiguren. Zu ihnen gehören Lastenträger und Fuhrmänner, Töchter und Ehefrauen, Heiratsvermittler und Rabbiner, Viehhändler, Schuster, Schmiede, Landarbeiter und Strassenverkäufer, Handelsleute, Bienenzüchter, Kaufleute und Kinder, vor allem Mädchen. Sie alle sind fast immer zu kurz gekommene Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Es gibt auch aufmüpfige Individuen und Rebellen, aber sie sind selten anzutreffen.
Besonders berührt hat mich an diesen Darstellungen die Zerrissenheit vieler Figuren, die an ihrem inneren Drama zu Grunde gehen. Scheuheit paart sich mit unterdrückter Leidenschaft, ängstliche Auflehnung mit Unterwerfung und Schmerz. Ich lese vom Strassenverkäufer Juso, der Sticheleien seitens seiner Mitmenschen ausgesetzt ist. Da ist weiter der Lastenträger Samuel. Er verharrt stolz in seiner Armut, um seine Würde nicht zu verlieren. Rafael, der Schuster, ist voll von Sehnsüchten und Träumen nach Zärtlichkeit und Liebe, Jahijel begehrt in seiner Verzweiflung auf und wird von der Gemeinde ausgeschlossen. Fast alle Figuren sind in der Einsamkeit und der Melancholie gefangen. Ab und an drängt jedoch Schönheit in das Leben der bescheidenen Menschen: Ein wärmender Sonnenstrahl erhellt die feuchte Bude des Schusters, im immer sauber geschrubbten Innenhof des ehemaligen Droschkenmannes Idriz grünen prachtvoll kleine Buchsbäume, der mächtige Fluss Drina gibt dem aus der Stadt vertriebenen Flösser Klindzo Ruhe und Zuversicht. Und dann sind da die Mädchen und die jungen Frauen. Wie begehrenswert erscheinen sie mit ihrer Jugend, der straffen Haut, den bunten Röcken, den festen Brüsten! In der Bewunderung der kleinen und grossen Wunder der Natur aber auch in der Annahme und der Beachtung der Gebote des ritualisierten Alltags können die Menschen Augenblicke der Ruhe finden.
Die acht Geschichten aus dem Erzählband Der Jude, der am Sabbat nicht betet zeichnen sich durch eine kraftvolle atmosphärische Dichte aus. Dies hat mit dem Erzählstil des Autors zu tun. Wie in einem orientalischen Märchen sind in die Hauptgeschichte Binnengeschichten eingebaut. Der Ich-Erzähler reiht sich ein in die zahlreich auftretenden Erzählstimmen. Im Text finden sich Ausdrücke aus dem Judo-Spanischen und Legenden und Weisheiten aus dem Talmud. Schon nach kurzer Lektüre taucht man in das jüdische Milieu Bosniens ein. Das Buch hat mich berührt. In Samokovlijas anteilnehmender Darstellung der Sehnsüchte der Menschen drückt sich ein tief empfundenes Verständnis für das Leben in all seinen existenziellen Facetten aus. Beim Lesen kamen mir oft auch Bilder von Marc Chagall in den Sinn. Angela Willimann
Klappentext:Die Erzählungen schlagen einen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre: Jahrhundertelang Teil des Osmanischen Reiches, gehörte Bosnien nun zur Föderativen Volksrepublik Jugoslawien. Samokovlija wirft Schlaglichter auf die wechselvollen Machtverhältnisse, denen eines gemeinsam ist: die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Anrührend und voller Empathie lässt er die jüdische Enklave Bosniens, die überwiegend aus Sepharden besteht, auferstehen. Die ärmlichen Lebensumstände seiner Figuren beschreibt er höchst realistisch, sein besonderes Interesse gilt jedoch ihrem Denken und Fühlen: Samokovlija schlüpft gleichsam in ihre Haut. Der arme Händler Juso, der schwermütige Schuster Rafael Mačoro und die leidenschaftliche Zigeunerin Hanka erscheinen vor dem Leser plastisch wie auf einer Bühne. Mit all ihren Sehnsüchten und kleinen Freuden, die dem mühseligen Alltag abgetrotzt sind. Menschen, die ihre Würde bewahren, sich den beengten Verhältnissen widersetzen, die eines fordern: das "Recht auf Freude im Leben".
Über die Autorin / über den Autor:Isak Samokovlija, geboren 1889 in Goražde, entstammte einer aus Bulgarien zugewanderten sephardischen Familie. Nach dem Medizinstudium in Wien arbeitete er in einem Militärhospital in Sarajevo. Daneben veröffentlichte er Gedichte, Artikel zu jüdischen Themen und ab 1927 Erzählungen, die meist im Milieu der sephardischen Juden angesiedelt sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte er sich im Jugoslawischen Schriftstellerkongress und wurde Präsident der Schriftstellervereinigung Bosnien-Herzegowinas. Samokovlija starb 1955 in Sarajevo.
Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren und in Kenia aufgewachsen, ist einer der renommiertesten deutschen Autoren, zuletzt erschien Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen. Seit 2008 gibt Trojanow die Reihe Weltlese – Lesereisen ins Unbekannte heraus.
Mit einem Nachwort von Dževad Karahasan, geboren 1953 in Duvno, der bedeutendste zeitgenössische Chronist Sarajevos, dessen Belagerung er in seinen bekanntesten Werken Schahrijârs Ring (1997) und Sara und Serafina (2000) erschütternd dokumentiert hat. Ausgezeichnet wurde Karahasan mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und der Goethe-Medaille. Er lebt in Graz und Sarajevo
Preis: CHF 35.90