Cyrill Stieger

Die Macht des Ethnischen

Rund 25 Jahre nach den Kriegen, die im ehemaligen Jugoslawien nach dem Zusammenbruch der Föderation entbrannt sind, hat Cyrill Stieger zahlreiche Gespräche mit Menschen in Kroatien, Bosnien, Serbien, Kosovo geführt. Dabei hat ihn die Frage umgetrieben, ob sich die ethno-nationalen Gräben, entlang derer die Fronten in den Kriegen der 90er Jahre geführt worden sind, in den vergangenen Jahrzehnten haben schliessen können. Dabei ist er zum Schluss gekommen, dass die Gräben sich nicht aufgelöst, sondern vielmehr zementiert haben.

Das Gedenken an die Opfer der Kriege findet nach wie vor für jede Bevölkerungsgruppe separat und in ihrer eigenen Logik statt. Was für die eine Gruppe eine Befreiung war, war für die andere eine Vertreibung und ein Zusammenbruch aller Lebenszusammenhänge, die über Generationen gewachsen sind; wo die eine Gruppe einen Genozid betrauert, leugnet die andere Gruppe die Existenz eines solchen. Diese verschiedenen Narrative werden in den Schulen vermittelt, so dass diese eine grosse Rolle bezüglich Versöhnung, Dialog und Verständnis zwischen den verschiedenen Nachfolgestaaten und Bevölkerungsgruppen spielen könnten. Doch die Schulen sind oft ethnisch getrennt, eine Sprachenpolitik, die die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen noch verschärft, legitimiert diese Trennung.

Cyrill Stieger, ehemaliger NZZ Korrespondent für den Balkan, führte für dieses Buch Gespräche mit zahlreichen Personen, Lehrer und Lehrerinnen, Politiker und Politikerinnen, Journalisten und Journalistinnen. Seine Analyse ist nicht optimistisch, zeigt aber auch die Komplexität der Situation auf. Und er macht deutlich, dass das eigentliche Problem der Region nicht die ethnischen Konflikte, sondern der Mangel an Zukunftsperspektiven für die Bevölkerung sind.

Ein interessantes und sehr lesenswertes Buch! cn

Klappentext:

Cyrill Stieger hat in den vergangenen Jahren die Orte wieder besucht, über die er während der Kriege berichtete; er war in Kroatien, Serbien, Bosnien, Kosovo. Er sprach mit den Menschen, auch mit Amtsträgern, fragte sie, ob sich die in den Kriegen aufgerissenen ethnischen Trennlinien, etwa in Vukovar oder in Mitrovica, verfestigt haben oder ob sie sich mit einer neuen Generation aufweichen. Was muss passieren, um den Fluch des Ethnischen zu brechen?

Das Buch verbindet anschauliche Reportagen mit politischen und historischen Analysen. Es geht um Identitäten und um die Folgen des Nationalismus, um unvereinbare Geschichtsbilder und darum, wie Erinnerung von nationalistischen Politikern manipuliert wird, ausserdem um die Schwierigkeiten der Aussöhnung. Es sind Themen, die in Zeiten des erstarkten Nationalismus und zunehmender autoritärer Tendenzen auch anderswo in Europa, in Polen und in Ungarn, aktuell sind. Aber der Pragmatismus und die Hoffnungen der Menschen auf dem Balkan geben Zuversicht.

Über die Autorin / über den Autor:

Cyrill Stieger, 1950 geboren, studierte slawische Philologie und osteuropäische Geschichte in Zürich und Zagreb. Nach Stationen als Assistent an der Universität Zürich und Mitarbeiter der Schweizer Botschaft in Moskau war er von 1986 bis 2015 Balkankorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Heute lebt er wieder in Zürich. 2017 erschien sein Buch Wir wissen nicht mehr, wer wir sind. Vergessene Minderheiten auf dem Balkan.

Preis: CHF 29.00
Sprache: Deutsch
Art: Broschiertes Buch
Erschienen: 2021
Verlag: Rotpunktverlag
ISBN: 978-3-85869-926-8
Masse: 200 S.

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