Maria Topali

Die Wurzeln lang ziehen. Eine pontische Spurensuche nach der Kleinasiatischen Katastrophe

Das etwas andere Geschichtsbuch zu den Pontusgriech:innen. Entlang der Familiengeschichte der Autorin, mit ihren Gedichte und mit Texten von Mirko Heinemann, die den historischen Rahmen mitliefern, erfahren wir vieles und Diverses rund um die Sprache, die Lebensweisen und Schicksale dieser Griech:innen, die die historische Landschaft Pontos besiedelten und nach dem 1. Weltkrieg zwangsumgesiedelt wurden. Diese Vertreibung, die auch die Vertreibung von Türk:innen aus Griechenland einschloss, wurde 1923 im "Vertrag von Lausanne" zwischen der Türkei, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien, dem Königreich der Serb:innen, Kroat:innen und Slowen:innen vereinbart. Ob eine Person als Griech:in oder Türk:in galt, hing von der Religionszugehörigkeit ab.

Das originell aufgebaute Buch ist auch sehr interessant, weil es Ausführungen über die Bedeutung dieser Flüchtlinge/Deportierten für das heutige Griechenland beinhaltet. Welches waren bzw. sind noch heute Auswirkungen dieses Traumas? Welche Traditionen haben sie mitgebracht und sind heute Teil von dem, das von uns für typisch griechisch gehalten wird? Der Miteinbezug von Gedichten rundet den Band schön ab. Er offenbart, dass Geschichte auf verschiedene Art weitergegeben werden kann. Die unterschiedlichen Herangehensweisen werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern als bedeutsam sich ergänzende Sichtweisen präsentiert, die erst die Komplexität erfassen lassen. Eine empfehlenswerte Lektüre! ap

Klappentext:

In ihrem biografischen Essay/Memoir, ergänzt um rund dreissig Gedichte, erzählt Topali von ihrer aus der Pontos-Region am südlichen Schwarzen Meer stammenden Familie, in der sich die "Kleinasiatische Katastrophe" vielschichtig spiegelt: so die Bezeichnung der Griechen für das Ende und die Konsequenzen des verlorenen griechisch-türkischen Kriegs (1919–1922). Höhepunkt waren der Brand und das Massaker der überwiegend von Griechen bewohnten Stadt Smyrna; dann 1923 in Lausanne die griechisch-türkische Vereinbarung über den Bevölkerungsaustausch: die Vertreibung von 1,2 Millionen Griechen aus ihrer Heimat (heute Türkei) und von 400'000 Muslimen oder "Türken" aus dem heutigen Griechenland. Einziges Kriterium: die Religionszugehörigkeit. Das Trauma hallt in der Region bis heute nach. In ihrem Zeugnis der Makro- wie Mikrogeschichte stellt Topali, gegen Scham und Verschweigen ankämpfend, beide, die türkische wie die griechische Täterseite in den Vordergrund. Betont aber, dass sie auch im Positiven ein Produkt dieses Dramas ist. Letztlich will ihr Text ein Signal sein für ein Miteinander, wie es über Jahrtausende möglich war.

Über die Autorin / über den Autor:

Maria Topali wurde in den 60er Jahren in Thessaloniki, Griechenland geboren. Das Haus ihrer Eltern, auf dessen Dach einige Bienenstöcke des Grossvaters standen, lag an einer noch nicht asphaltierten Strasse, jenseits der byzantinischen Stadtmauern im Westen der Stadt. Pferdekarren zogen vorbei, der Kontrast zum modernen Stadtzentrum war krass. Die multiethnische  Vergangenheit der Stadt blieb bis Anfang des 21. Jahrhunderts tief begraben; doch jüdische und türkische Begriffe hatten als Ortsnamen und in der Esskultur überlebt. Für Marias Kinderohren hatten sie einen magischen, aber auch beunruhigenden Klang. Ähnlich erging es ihr mit dem pontischen Dialekt, der mittelalterlichen Sprache der Schwarzmeer-Griechen. Das war die Sprache ihrer Vormittage, die sie mit Grossvater und Tagesmutter verbrachte, da die Eltern berufstätig waren. Kamen sie von der Arbeit zurück nach Hause, wechselte die Sprache in das normale Alltagsgriechisch.

Schon als Kind schrieb Maria Gedichte. Es war ihr Versuch, aus dem einen Ich in das andere zu übersetzen, ohne dabei die Widersprüche einzuebnen, sie unter den Tisch fallen zu lassen. Sie besuchte die Deutsche Schule in Thessaloniki, deren Gründung noch in die Zeit des osmanischen Reichs zurückreichte. Die Familie zog in den östlichen Teil der Stadt. Dialekt und Bienen blieben zurück – vielmehr sickerten ein in ihr Schreiben. Maria Topali  machte ihr deutsches Abitur und studierte Jura in Athen und Frankfurt, wo sie mit Unterstützung der Daimler-Benz Stiftung über den "Schutz des Mittelmeers vor Verschmutzung durch Festlandquellen (Frankreich, Griechenland, Tunesien)" promovierte. Seit 1995 lebt und arbeitet sie in Athen. Ihr fester Arbeitsplatz ist das Nationale Zentrum für Sozialforschung (EKKE). Ihre erste Gedichtsammlung, Σερβίτσιο Τσαγιού, Teeservice, erschien 1999, es folgten drei weitere Gedichtsammlungen, zwei Libretti für Musiktheater, mehrere Übersetzungen aus dem Deutschen, darunter Rilkes Duineser Elegien, eine Anthologie griechischer Lyrik aus dem 21. Jahrhundert (Deutsch, 2018, edition Romiosini; Griechisch, 2020, Antipodes). Überdies widmet sie sich seit rund 25 Jahren der Literaturkritik, schreibt Rezensionen und andere Texte  für die Zeitschrift Poiitiki, bei der sie auch Redaktionsmitglied ist, sowie für Kathimerini (Sonntagsblatt).

Mirko Heinemann, Sohn eines deutschen Vaters und einer griechischen Mutter. In Thessaloniki kam er zur Welt, aufgewachsen ist er in Mönchengladbach. Er rackerte am deutschen Gymnasium und entspannte an griechischen Stränden. Übers Jahr sass er im katholischen Religionsunterricht, in den Sommerferien im orthodoxen Gottesdienst. Derart zwischen den Stühlen, entschied er sich zum seitlichen Ausbruch: nach Berlin, hinein in die Wirren der Wendezeit und das Abenteuer Journalismus. Viele Jahre später reiste er auf der Suche nach der wahren Herkunft seiner griechischen Familie in die Türkei. Aus der Reise und vielen Recherchen ging sein erzählerisches Sachbuch über die Vertreibung der Pontos-Griechen hervor: Die letzten Byzantiner erschien 2019 im Ch.-Links-Verlag. Mirko Heinemann lebt vom journalistischen Schreiben und renoviert derzeit ein altes Haus in Mecklenburg, gemeinsam mit seiner Familie.

Birgit Hildebrand, geboren 1944 in Regensburg erhielt 2001 den Deutsch-Griechischen Übersetzerpreis für Pavlos Matessis' Tochter der Hündin und 2014 den Griechischen Staatspreis für Übersetzung für Christos Ikonomous Erzählband Warte nur, es passiert schon was.

Preis: CHF 32.90
Sprache: Deutsch (aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand, Doris Wille)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2023
Verlag: Edition Converso
ISBN: 978-3-949558-11-5
Masse: 192 S.

zurück