Elif Shafak

Unerhörte Stimmen

Unerhörte Stimmen, so die Übersetzung des englischen Originals 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World, lässt die Leserin zunächst über die deutsche Übersetzung des Titels nachdenken. Zum einen kann unerhört nicht gehört bedeuten, zum andern kann unerhört als Reaktion auf das Gehörte verstanden werden. Elif Shafak verbindet in ihrem neuen Roman beide Bedeutungen auf beeindruckende Art und Weise. Sie bringt Ungehörtes zur Sprache und webt daraus eine Geschichte, die von konservativen und nationalistischen Kreisen der türkischen Gesellschaft als "unerhört" angesehen wird. "Mich hat immer diese unterprivilegierte Perspektive interessiert, die der Entrechteten, die wollte ich immer in meiner Arbeit darstellen, und ich wollte immer den Ungehörten eine Stimme verleihen", sagt die Autorin beim Erscheinen ihres Buches in einem Interview mit Joachim Scholl. Den Mächtigen in der Türkei ist Shafaks Anschreiben gegen gesellschaftliche Missstände allerdings ein Dorn im Auge. Ein Staatsanwalt in Istanbul hat den Text darauf untersucht, ob er nicht gegen die Anständigkeit verstosse, erzählt die Autorin. Eine Erfahrung, die für sie nicht neu ist. Bereits 2006, als ihr Buch Der Bastard von Istanbul erschienen ist, wurde auch ein Gerichtsverfahren gegen sie eingeleitet. Mittlerweile lebt Elif Shafak seit zehn Jahren in London und verfasst ihre Texte entweder in englischer oder türkischer Sprache.

Was ist denn nun der Inhalt dieses Textes, der auf der einen Seite Begeisterung und auf der anderen starkes Missfallen auslöst? Die Protagonistin, eine Prostituierte, von ihren Freund*innen Tequila Leila genannt, wird in Istanbul ermordet und in eine Mülltonne geworfen. Doch ganz tot ist Leila noch nicht, denn Shafak lässt das Gehirn ihrer Protagonistin noch weiterarbeiten. Über eine Zeitspanne von 10 Minuten und 38 Sekunden lehnt sich Leila gegen den Tod auf, indem sie im Minutentakt ihr Leben Revue passieren lässt. Leila zeichnet das Bild einer Familie, die sich auf Tabus und Geheimnisse gründet, um so den Schein einer rechtschaffenen Familie aufrechtzuerhalten. Unglaubliche und schreckliche Geheimnisse muss Leila als Kind hüten und erleiden und wird so in die ambivalente Kultur des Schweigens eingeführt. Doch diese Geheimnisse lasten schwer auf dem Mädchen, und sie wird vom fröhlichen Kind zur verschlossenen Aussenseiterin – bis sie sich auflehnt und als Prostituierte in Istanbul landet.

Auch dort bleibt sie eine Aussenseiterin, genauso wie ihre fünf Freund*innen, die transsexuell, kleinwüchsig oder auf der Flucht sind. Sie sind alle am Rande der Gesellschaft gestrandet, aber gescheitert sind sie nicht. Sie hatten einander und ihre wunderbare Freundschaft. Das ist auch das Letzte, was Leila sah, bevor ihr Hirn zum Stillstand kam und sich ihre Erinnerungen in einem dichten Nebel auflösten. An dieser Stelle endet der erste Teil des Buches. Im zweiten Teil hören wir die unerhörten Stimmen von Leilas Freund*innen. Sie erzählen davon, wie sie in Leilas Leben getreten sind und wie sich diese Begegnungen langsam in tiefe Freundschaften verwandelt haben. Es sind diese Freund*innen, die sich auf die Suche nach Leila machen, als diese nicht nach Hause kommt, und die ihr die die letzte Freiheit schenken.

Es gibt viele Gründe, dieses Buch zu lesen, aber einige stechen für die Leserin hervor. Um es gleich vorweg zu nehmen, ich finde diesen Text schon wegen seiner hohen Erzählkunst und seiner sprachlichen Schönheit äusserst lesenswert. Die Autorin erzählt uns Geschichten von gesellschaftlichen Aussenseiter*innen auf eine Art und Weise, die einen tiefen Einblick in jenen Teil der türkischen Gesellschaft vermittelt, der sich durch patriarchale Gewalt und religiösen Konservativismus auszeichnet. Das macht sie auf eine Art und Weise, dass die Unerhörten Stimmen nicht nur als Opfer zu uns sprechen, sondern auch als lebendige und eigensinnige Gestalter*innen ihrer Biografien. Über Assoziationsketten verknüpft die Autorin die einzelnen Geschichten und entwickelt einen Text, der die Leserin in einen Sog gezogen hat, der viel länger als 10 Minuten und 38 Sekunden angehalten hat. Doris Gödl

Klappentext:

Gemäss einer Studie ist das menschliche Gehirn nach dem letzten Atemzug für weitere 10 Minuten und 38 Sekunden aktiv. Diese Erfahrung macht auch Leila, eine Prostituierte, als sie eines Nachts ermordet wird. Minute für Minute denkt sie zurück, erinnert sich an Gerüche und Farben, an ihre Weggefährten und Feinde, an die entscheidenden Momente ihres Lebens, einschliesslich des letzten. Wie konnte es zu ihrem Tod kommen?

Elif Shafak erzählt in ihrem neuen Roman von einer starken Frau in einem einengenden Umfeld – mal tragisch, mal berührend und doch sehr unterhaltsam. Mit Leila bekommen all jene Menschen eine Stimme, die darum kämpfen müssen, ihren eigenen, unkonventionellen Weg zu gehen.

Hier ein Interview mit Elif Shafak in der NZZ.

Über die Autorin / über den Autor:

Elif Shafak, in Strassburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Die preisgekrönte Autorin von siebzehn Büchern, darunter Die vierzig Geheimnisse der Liebe (2013), Ehre (2014) und Der Geruch des Paradieses (2016), schreibt auf Türkisch und Englisch. Mit ihren Artikeln und Auftritten wurde sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte znächst in der Türkei, später in ganz Europa. Elif Shafak lebt in London.

Preis: CHF 19.00
Sprache: Deutsch (aus dem Englische von Michaela Grabinger)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2019
Verlag: Kein & Aber
ISBN: 978-3-0369-6109-5
Masse: 431 S.

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