Christoph Keller

Übers Meer

Übers Meer (2013) von Christoph Keller ist ein in seiner Dramaturgie geschickt konstruierter Roman über das Schicksal vier sehr unterschiedlicher Menschen. Es ist ein Blick durch ein Kaleidoskop: Die einzelnen Fragmente greifen im Verlauf der Erzählung ineinander und ergeben das Bild einer Generation, die mit ihren Enttäuschungen klar- kommen muss. In den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts jung und erwartungsfroh in die Zukunft schauend, treffen vier Repräsentanten dieser Generation 22 Jahre später am Mittelmeer aufeinander. Dieser Raum und seine Menschen haben sich seit 1980 ebenfalls verändert. Es ist kein Zufall, dass die im Verlauf der Erzählung geschilderten Schicksale um die Themen Bedrohung und Tod kreisen. Das Mittelmeer und seine Küsten sind längst nicht mehr Sehnsuchtsort einer in den Achtzigern politisch bewegten Jugend. Die Zone ist zu einer Todesfalle geworden. Warum dies so ist, und wie betroffene Menschen damit umgehen, ist Inhalt des Buches.

Die Handlung beginnt im Jahre 2002. Astér und Paco, zwei Freundinnen aus New York, sind auf Lampedusa und lauschen einer männlichen Stimme aus einem Kassettenrekorder. Es handelt sich um die Aufzeichnungen des Schweizer Meeresforschers Claude. Wegen dieses Mannes hat sich Astér – fünf Monate vor ihrem Aufenthalt in Lampedusa – nach Tunesien, auf die Insel Djerba begeben. Sie wollte dort ihre verflossene Liebe wiedertreffen. Aber die Begegnung hat nicht stattgefunden.

Astér, die im Städtchen Houmt Souk auf ihren ehemaligen Geliebten wartet, wird während einer touristischen Erkundungsfahrt  Opfer eines islamistischen Anschlags. Der Granatsplitter, der sich in ihr Hirn bohrt, wird der jungen Frau in der Zeit ihrer Genesung in Brooklyn die Erinnerung an den tunesischen Aufenthalt erschweren. Nur langsam und in Bruchstücken kommt sie zurück. Als erstes taucht der Gedanke an die Tatsache auf, dass Claude, der übers Meer kommen wollte, nie in den Hafen eingefahren ist. Er wird bei seiner Überfahrt Opfer eines unvorhergesehenen Vorfalles. Weder das geographische Wissen noch die fundierten meteorologischen Kenntnisse können ihn vor dem Sturm bewahren, der sein Segelschiff zum Kentern bringt. Er kann sich noch auf eine schwimmende Plattform aus Plastik retten. Auf dem Meer treibend spricht er Gedanken und Vorahnungen in das Aufnahmegerät, das er zusammen mit Trinkwasser und einigen Lebensmitteln noch mitnehmen konnte. Seine Überlegungen zum Mittelmeer und seinen Küsten drücken nostalgische Erinnerungen an einen vergangenen Kulturraum aus, in dem der rege Handel und der Austausch der Ideen das Leben der Menschen bereicherte. Die nun gelebte und erfahren Realität ist eine andere.

Eine dritte Erzählstimme ist Tahar. Er ist der Taxifahrer, der Astér auf ihren Erkundungen auf Djerba begleitet. Während seiner Fahrten erzählt er von vergangenen und gegenwärtigen Zeiten, von Wünschen und geplatzten Träumen. Symbolhaft für die Intaktheit eines traditionsreichen Lebens steht sein Grossvater; ein weiser Mann, der in seinem Laden Gewürze und Düfte verkauft. Mit seinem Enkel Taher spricht er über religiöse Toleranz und dem respektvollen Umgang mit dem Leben. Doch die Gegenkräfte, die bei einer frustrierten Jugend Hass schüren, sind am Erstarken. Tahars ehemalige Jugendfreunde haben sich auf das Basteln und Zünden von Bomben spezialisiert. Ihre Hoffnung auf einen kleinen Laden für elektrische Geräte und Telefone scheiterte an der traurigen Realität tunesischer Politik. Tahar beschreibt die Radikalisierung der Jugend. Er selbst ist seit dem Attentat auf der Flucht, obwohl er seinen Fahrgast Astér schwer verletzt aus dem Taxi gezerrt und rettenden Händen übergeben hat.  Gejagt von den Attentätern und fälschlicherweise auch als Terrorverdächtiger von der Polizei, weiss er nicht mehr, bei wem er Zuflucht finden kann.

Als vierter Erzähler tritt Abdoulaye Touré auf. Der junge Mann aus Mali berichtet von seiner Flucht durch die Wüste und das Meer. Er strandet in Lampedusa. Seine Leidensgeschichte hält er in einem kleinen schwarzen Notizheft fest. Die Dürre hat ihn zusammen mit zwei Freunden aus einer Kleinstadt am Niger getrieben. Die Absicht, eine Werkstatt aufzubauen, in dem Motorräder repariert werden, kann nicht verwirklicht werden. Die Ersparnisse der drei Freunde schwinden zusehends dahin: Die jungen Männer unterstützen finanziell ihre Mütter, damit diese das Nötigste zum Überleben kaufen können. Die Adressen, welche die jungen Erwachsenen ab und zu von weissen Touristen zugesteckt bekommen, sind nutzlos. Touré verliert bei der Überfahrt auf dem Meer seine Freunde. Als einziger erreicht er Lampedusa. In der Weite des Meeres stösst er auf die verlassene Yacht des Meeresforschers Claude. Nur dank ihr überlebt er.

Christoph Keller hat mit Übers Meer einen engagierten und anregenden Roman geschrieben. Die Komplexität des aktuellen Sachverhaltes spiegelt sich in den verschiedenen Erzählperspektiven. Man spürt beim Autor die Liebe zum Mittelmeerraum und seinen Bewohnern. Damals wie heute suchen Menschen Lebensbedingungen, die eine gute Existenz ermöglichen. Im Moment – und dies zeigt das Buch – ist das Mittelmeer ein unsicherer Ort. Die Tatsache jedoch, dass am Ende der Geschichte alle Protagonisten überleben, kann als Hinweis gelesen werden, dass der Autor trotz allem an die Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebensraumes glaubt. Zu Recht steht das Werk in den Gestellen des Buchladens mille et deux feuilles! Angela Willimann

Klappentext:

Das Jahr 1980. Eine Gruppe von jungen Leuten besetzt ene Vila und erfindet die Gesellschaft neu. Ihre Aktionen werden imer gewagter und gipfeln in derForderung nach freier Sicht aufs Mittelmeer. Inmitten dieses Aufbruchs verliebt sich Astèr in Claude. Das Jahr 2002. Astèr sitzt in ihrer New Yorker Wohnung und sucht in ihrem leeren Gedächtnis nach Antworten. Warum ist sie nach Djerba gereist, um auf Claude zu warten? Was ist passiert nach der Explosion in der Synagoge von Houmt Souk,die eine Lücke in ihr Hirn gerissen hat? Was ist dem Fahrer zugestossen, der ihr stundenlang von seiner INsel erzählte? Wohin sind Claude und sein Segelboot von dem Sturm getrieben worden, der in diesen Tagen über dem Meer wütete? Und was wollte Claude eigentlich damals, vor zweiundzwanzig Jahren, in der Villa?

Geschickt kreuzt Christoph Keller in seinem Roman die Geschichte von Claude und Astèr mit den Bekenntnissen eines tunesischen Taxifahrers, der seinem Umfeld entkommen will, und dem Schicksal eines Flüchtlings aus Mali, der in einem verwüsteten Segelboot auf Lampedusa strandet. Dabei entsteht ein vielschichtiges erzählerisches Mosaik des Mittelmeers als Raum von Such- und Fluchtbewegungengen, als Schmelztiegel afrikanisch-europäischer Geschichte und Geschichten.

Über die Autorin / über den Autor:

Christoph Keller, in der Schweiz geboren, in Peru aufgewachsen, ist Autor zahlreicher Radio- und Printreportagen und wurde u.a. zweimal mit dem Prix Europa ausgezeichnet. Er arbeitete als Reporter beim Magazin des Tages-Anzeigers, schreibt heute u.a. für GEO. Weitere Publikationen: Der Schädelvermesser. Eine historische Reportage (1995), Building Bodies. Der Mensch im biotechnischen Zeitalter (2003) sowei Alamor drei Tage, Roman (2007). Christoph Keller ist hauptberuflich bei Schweizer Radio SRF2 Kultur tätig und lebt in Basel.

Preis: CHF 36.00
Sprache: Deutsch
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2013
Verlag: Rotpunkt
ISBN: 978-3-85869-530-7
Masse: 295 S.

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