Adania Shibli

Eine Nebensache

Der erste Teil des kleinen Büchleins spielt im August 1949, als eine Gruppe von israelischen Soldaten einen Posten an der ägyptischen Grenze errichtet. In einer schnörkellosen, effizienten Sprache beschreibt Shibli, wie die Soldaten auf der Suche nach arabischen Menschen die Gegend durchkämmen. Sie stehen unter der Leitung eines Offiziers, dessen Aktivitäten man als Lesende insbesondere nachvollzieht. Er wird offenbar von einer Spinne gebissen, die Wunde eitert, sie entzündet sich, er leidet grosse Schmerzen. Doch das bringt ihn nicht von seiner Mission ab. Er bleibt klar auf seine Aufgabe ausgerichtet. Und als die Soldaten auf eine Gruppe von Beduinen treffen, erschiessen sie diese alle. Ebenso wie die Kamele. Nur ein Mädchen und ein Hund bleiben am Leben, die sie mit ins Lager nehmen. Minutiös beschreibt die Autorin, wie das Mädchen dort behandelt wird, wie die Männer reagieren, wie sie schliesslich vergewaltigt wird und ihr Leben verliert. Distanziert, fast schon kalt mutet die objektive Schilderung der Ereignisse an.

Vollkommen unterschiedlich ist die zweite Hälfte des Buches, wo eine Ich-Erzählerin in der Jetzt-Zeit ihr Leben in Palästina beschreibt. Ihre Panikattacken, ihre Unfähigkeit, kühl und gelassen zu bleiben, Grenzen nicht zu übertreten. In gewundenen, mäandernden Sätzen, die die atemlose Gefühlslage der Ich-Erzählerin eindrücklich wiedergeben, erzählt sie, wie sie über den in der ersten Hälfte des Buches beschriebenen Zwischenfall gelesen hat, wie sie sich selber ein Bild davon machen will, was geschehen ist, insbesondere aus der Perspektive des Mädchens. Sie bereitet sich vor, leiht eine entsprechende Identifikations-Karte von einer Arbeitskollegin aus, mietet ein Auto und verlässt seit langem wieder einmal das Gebiet, in dem sie lebt. Die Checkpoints bereiten ihr Panik, der Verkehr, die Landschaften, die sich so sehr verändert haben ... Sie erkennt das Land nicht mehr. An den verschiedenen Orten, die sie besucht, wird sie nicht fündig. Doch sie kann die Suche nicht lassen und fährt immer weiter ...

Ein berührender Text, der das Gefühl der Palästinenser:innen von Ausradierung aus der israelischen Lebenswelt auf ganz verschiedenen Ebenen sichtbar macht. Das Verschwinden der palästinensischen Dörfer, die Check-Points, die mit den entsprechenden Dokumenten passiert werden müssen, die verschiedenen Karten, die sich überlagern, machen dieses Gefühl auf der physischen Ebene sehr deutlich. Aber auch auf der psychischen Ebene wird die Unzulänglichkeit des Zugangs der Ich-Erzählerin betont. Ihre intuitive, gefühlsbetonte Suche nach Hinweisen lässt sie nicht zu ihrem Ziel gelangen. Eine äusserst eindrückliche Lektüre. cn

Klappentext:

Was bewahren Geschichten? Was wird erzählt, was ausgelassen? Im Sommer 1949 wird ein palästinensisches Beduinenmädchen von israelischen Soldaten vergewaltigt, ermordet und in der Wüste verscharrt. Jahrzehnte später versucht eine junge Frau aus Ramallah, mehr über diesen Vorfall herauszufinden. Sie ist fasziniert, ja besessen davon, nicht nur wegen der Art des Verbrechens, sondern vor allem, weil es auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre vor ihrer Geburt begangen wurde. Ein Detail am Rande, das jedoch ihr eigenes Leben mit dem des Mädchens verknüpft.

Adania Shibli verwebt die Geschichten beider Frauen zu einer eindringlichen Meditation über Krieg, Gewalt und die Frage nach Gerechtigkeit im Erzählen.

Über die Autorin / über den Autor:

Adania Shibli, geboren 1974 in Palästina, schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays und ist zudem in der akademischen Forschung und Lehre tätig. Eine Nebensache ist ihre erste Buchveröffentlichung auf Deutsch, die englische Übersetzung war für den National Book Award (2020) sowie für den International Booker Prize (2021) nominiert. Adania Shibli lebt in Palästina und Deutschland.

Preis: CHF 30.90
Sprache: Deutsch (aus dem Arabischen von Günther Orth)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2022 (2016)
Verlag: Berenberg
ISBN: 978-3-949203-21-3
Masse: 128 S.

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