Al leil spielt in Quneitra, eine Stadt auf den Golanhöhen im Südwesten von Syrien, wo die osmanische Verwaltung im 19. Jahrhundert aus dem Kaukasus vertriebene Tscherkessen angesiedelt hatte, um arabische Aufständische zu kontrollieren. Der Regisseur offenbart uns das Leben dieser geschichtsträchtigen Region, geprägt von den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen und Religionen, entlang des Lebens seines Vaters. Dieser nahm als syrischer Freiwilliger am palästinensischen Aufstand gegen die britische Mandatsmacht im Jahre 1936 teil, kehrte gebrochen voller Scham und Demütigung nach Quneitra zurück, ohne je den Traum vom befreiten Palästina aufzugeben. Die Figur des Vaters und seiner Kumpanen ermöglichten mir, Palästina aus der Sicht der arabischen Solidaritätsbewegung fernab von politischem Kalkül und nahe an der Begeisterung der Basis kennenzulernen.
Der Film zeichnet sich durch eine unglaublichen Liebe zum Detail aus, welche einem erlaubt viel über die Lebenswelten an diesem Ort abseits der Zentren und doch mitten im Zeitgeschehen zu erfahren. Bis 1967 war die Stadt unter der Kontrolle der französischen Kolonialisten und fiel dann 1967 im Sechs-Tage-Krieg an Israel. Wir begleiten die Protagonistinnen und Protagonisten durch all diese politischen Turbulenzen und erfahren die Beweggründe ihres Handelns. Gerade weil diese Stadt tatsächlich existiert bzw. existierte – heute ist Quneitra eine Geisterstadt (1974 musste Israel die Stadt an die UN-Friedenstruppen abgeben. Davor zwang man die Bewohnerinnen und Bewohner die Stadt zu verlassen, um dann die Stadt gänzlich zu zerstören) – ist der wunderbar theatralisch inszenierte Spielfilm so beeindruckend.
Ich kann Al leil all denjenigen sehr empfehlen, die sich für Syrien, seine Geschichten und Menschen interessieren und die historischen Fakten nicht in einem Geschichtsbuch nachlesen, sondern künstlerisch umgesetzt ersehen möchten. ap
Klappentext:Malas blendet in Al Leil zurück in die Zeit zwischen 1936 und 1967. Er schildert die Kindheit eines Knaben, der als Erwachsener den Spuren des Vaters nachgeht, den Zeiten der ständigen Absenz. Eines Tages war er überhaupt nicht mehr aufgetaucht, nachdem er während Jahren für die Demokratie gekämpft hatte, immer wieder mit seinen Kampfgefährten loszog und kaum Zeit fand für seine Familie, für sein Privatleben. Der Knabe wuchs mit seiner Mutter auf. Über sie erfährt der Junge auch einen Teil der Geschichte des Vaters. Seinen Film hat Malas "gewidmet jenen, die im Dunklen kämpften und in der Stille starben." Er dreht das Rad der Zeit nicht einfach rückwärts, er webt vielmehr einen orientalischen Teppich voller Ornamente, auf dem die Zeiten sich überlagern, auf dem sich ein Bild der Geschichte entfaltet, das jenseits von Daten entsteht. Es gibt so etwas wie den Konjunktiv in dieser Erzählform, die Malas wählt, das Mögliche, das das Wirkliche mitbestimmt. Da berichtet die Mutter im Off von einem Ereignis, und gleichzeitig sehen wir sie im Bild, das Erzählte erleben. "Papa, ist es noch weit bis Palästina?" lautet eine der Fragen, auf die der Knabe keine Antwort kriegen kann, je länger je weniger. Denn allmählich wird auch das Ideal der Demokratie verraten, stehen jene, die während Jahren unter Selbstaufopferung für sie kämpften, allein im Regen einer Diktatur, die sich selber feiert.
Al Leil ist nicht nur in seiner Konstruktion der übereinanderglegten Zeit-Folien faszinierend, Malas liebt überhaupt die visuelle Erzählform, er setzt auf Fotogramme. Spiegel, Durchblicke, Schatten, dann die Füsse der Mädchen unter der Wand, die Scherben angesichts des Mannes, die Schleier, die Tücher. Bei einer Rasur wird nebenbei auch die Bedeutung der Erzähltradition deutlich, die eine Neuigkeit mitunter wie ein Lauffeuer unter die Leute bringt und handkehrum weit zurückgreift in der Geschichte, sich Zeit nimmt, die Zeit auszuloten. Der Film handelt vom Leben in der Erinnerung, vom Eingebundensein der Gegenwart in der Vergangenheit, von der Einsamkeit in der Trennung, vom Traum Palästina. Das Lauschen, das Spienzeln, das Tasten, kurz: Die Sinnlichkeit ist gross geschrieben. Bis dass Gegenwart und Vergangenheit in einem Bild sich überlagern.
Auszeichnungen: Goldener Tanit (Bester Film) Karthago, 1992; Grosser Preis Fribourg, 1993; Grosser Preis Brügge, 1993; Selektion Internationales Forum des Jungen Films, Berlin 1993.
Über die Autorin / über den Autor:Regisseur Mohamed Malas wurde 1945 im syrischen Kuneitra geboren, unweit der Grenze zum heutigen Israel, von dem der wichtige Verkehrsknotenpunkt Kuneitra im Sechstagekrieg zerstört worden war. Er studierte an der Moskauer Filmhochschule VGIK. Zunächst drehte Mohamed Malas mehrere Kurzfilme und Spielfilme, die inspiriert sind durch eigene Kindheitserinnerungen und sein politisches Engagement.
Preis: CHF 19.00