Annie Ernaux

Die Jahre

Dieses Buch wird tausend Erinnerungen in Ihnen wecken, vor allem, wenn Sie schon etwas älter sind: an Kleider, die Sie als Kind trugen, an die Schulmilch oder vielleicht eher den Pausenapfel, an Teenagersehnsüchte und die dutzendfach hintereinander abgespielte Lieblingsschallplatte, an die durch 1968 ausgelösten Umbrüche der gesellschaftlichen Wertvorstellungen, an die erste Geschirrwaschmaschine oder das Auftauchen von AIDS.  Annie Ernaux, 1940 geboren, wagt mit Die Jahre eine kollektive, unpersönliche Autobiographie. Im Zentrum steht das Zeitgeschehen, die Moden und das Typische der jeweiligen Zeit, wie es von einer Frau erlebt wird, die, aus bescheidenen ländlichen Verhältnissen in Frankreich stammend, den Aufstieg zur Intellektuellen und Gymnasiallehrerin schafft.

Zwar strukturieren die Beschreibungen einiger Fotos die Erzählung – Bilder, auf denen man das Mädchen sieht, dann die junge Frau, die Lehrerin, die Ehefrau und Mutter und schliesslich die geschiedene Frau mit ihren erwachsenen Söhnen und Schwiegertöchtern –, aber die Frau bleibt ohne Namen, sagt nie "ich". Die Geschichte ihrer Lieben und Affären, ihre Emanzipation als Frau, ihre politischen Engagements oder ihr Gefühl, als soziale Aufsteigerin nirgends so richtig zu Hause zu sein, bringen durchaus auch emotionale Momente ins Spiel, aber alles bezieht sich nicht in erster Linie auf eine bestimmte Person, sondern auf eine Generation von Frauen aus ähnlichem Umfeld. "„Man" empfand Abscheu gegen den Algerienkrieg und die Bomben der OAS in Paris, "wir" fühlten uns weniger alleine, als 343 bekannte Frauen öffentlich erklärten: "Ich habe abgetrieben".

Annie Ernaux's Versuch, die Jahre einzufangen, Zeugnis abzulegen, von dem was die Menschen erlebt und empfunden haben, was speziell und einmalig war im Verlauf der Zeit und nie in gleicher Form wiederkehren wird, darf als sehr gelungen bezeichnet werden, auch wenn der Vergleich mit Proust, den manche Kritiker ziehen, mir nicht ganz passend scheint. Anders als Proust macht sie das Vergehen der Zeit nicht an einem intensiven persönlichen Erleben fest, das durch seine Vertiefung Universalität gewinnt, sondern will die "gelebte Dimension der Geschichte einfangen".  Es geht bei ihr zwar auch um Empfindungen, die aber in ganz engem Zusammenhang stehen mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, den Gewohnheiten, den Produkten und technischen Neuerungen die all die Jahre zwischen dem 2. Weltkrieg und dem ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts geprägt haben. Auch wenn das Buch nie die Dramatik eines von verschiedenen Charakteren und ihrer Interaktion geprägten Romans hat, ist es spannend zu lesen. Es weckt unzählige Assoziationen, lässt den Leser, die Leserin das eigene Erleben der verschiedenen Jahre und Jahrzehnte hinterfragen und konfrontiert uns mit dem unvermeidlichen Vergehen der Zeit und dem Wunsch, etwas festzuhalten von dem, das uns prägte, von dem, was war. Annie Ernaux hat es ein Stück weit für uns getan. Elisa Fuchs

Klappentext:

Kindheit in der Nachkriegszeit, die Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, de Gaulle, der Mai 1968, Krankheiten und Verluste, die sogenannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, die uneingelösten Verheissungen der Nullerjahre, späte Liebe, die Banalisierung der Sprache, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Aufzeichnungen und Erinnerungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Annie Ernaux die Jahre, die vergangen sind. Und dabei schreibt sie ihr Leben – unser Leben, das Leben – in eine völlig neuartige Erzählform ein, in eine kollektive, "unpersönliche Autobiografie".

Geschichte ihrer selbst, Gesellschaftsporträt, universelle Chronik: Annie Ernaux hat ein melancholisches Meisterwerk der Gedächtnisliteratur geschrieben und einen schillernden roman total.

Über die Autorin / über den Autor:

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als "Ethnologin ihrer selbst". Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von der Kritik und vom Publikum gleichermassen gefeiert und vielfach mit Preisen ausgezeichnet worden.

Sonja Finck, geboren 1978, lebt in Berlin und Gatineau (Kanada) und übersetzt Romane und Theaterstücke aus dem Französischen und Englischen.

Preis: CHF 17.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Sonja Finck)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2019 (2008)
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-46968-2
Masse: 256 S.

zurück