Marie-Hélène Lafon

Geschichte des Sohnes

In zwölf, nicht chronologisch geordneten Kapiteln, erzählt Marie-Hélène Lafon die Geschichte von drei Generationen von Söhnen, Vätern und Müttern. Im Zentrum steht André, der bei der Schwester seiner Mutter im Cantal aufwächst, in Figeac, einer kleinen Provinzstadt. Hélène, ihr Mann Léon und drei drei Töchter nehmen ihn bei sich auf, als seine Mutter Gabrielle sie darum gebeten hat. Gabrielle, damals eine grosse Ausnahme und deshalb mit vielerlei Gerüchten umrankt, lebte als alleinstehende Frau in Paris, hat dort gearbeitet und verschiedene Beziehungen zu Männern gepflegt. Darunter auch zu Paul, einem um einiges jüngeren Mann, den sie noch in Aurillac, an ihrer Stelle als Krankenschwester in einem Internat, kennengelernt hatte. Er war damals noch Schüler des Internats. Als sie – bereits in Paris – von ihm schwanger wurde, kam es für sie nicht in Frage, mit dem Kind zurück zu ihrer Familie zu ziehen. Sie hat ihren Sohn weggegeben und ihn nur zweimal im Jahr während ein paar Wochen gesehen. Das Buch ist auch die Geschichte dieser unabhängig leben wollenden Frau.

André hat eine überaus glückliche Kindheit verbracht. Doch diese Leerstelle, wo eigentlich der Vater, der Blutsvater, hätte sein sollen, bleibt leer. Erst als er selber Vater wird, versucht er, den abwesenden, unbekannten Vater zu treffen. Doch sehr weit gehen seine Versuche nicht, die Leerstelle bleibt. Erst sein Sohn, Antoine, kann hundert Jahre später, nach dem Tod Andrés, den Kreis der väterlichen Familie schliessen.

Neben den Schicksalen der einzelnen Personen, die eindringlich gezeichnet werden, einem sehr nahe kommen, aber doch in einer wohltuenden Distanz bleiben – sie bleiben bei sich und haben ihr Eigenleben –, beschreibt Lafon auch die Veränderungen der Lebenswelt im Cantal. Oder besser die Veränderungen der Leben der Menschen, die von dort stammen. Denn die Welt im Cantal scheint sich nicht zu verändern. Die langen Sommer, die Platanen, das gleissende Licht, man glaubt, die Gerüche zu riechen und die Sonne auf der Haut zu spüren. Ein wunderbares Buch! cn

Klappentext:

Die Familie birgt ein Geheimnis, das Geheimnis um Andrés Vater, das der Sohn in dem Moment aufzudecken beginnt, da er selbst Vater wird. André ist der Sohn von Gabrielle und Paul. Die beiden sind sich 1919 im Krankenzimmer des Gymnasiums von Aurillac begegnet, Gabrielle als Krankenschwester, Pauls als sechzehn Jahre jüngere Internatsschüler. Gabrielle strebt aus der provinziellen Enge fort und folgt Paul nach Paris, obwohl sie weiss, dass die Beziehung nicht andauern kann. Als sie schwanger wird, erfährt Paul nichts davon. André wächst behütet in der Familie von Gabrieles Schwester Hélène und deren Mann Léon mit seinen fröhlichen Cousinen auf – und doch bleibt die Vaterstelle leer.

Der Roman ist kunstvoll aufgebaut. Zwölf Kapitel, jedes mit einem Datum überschrieben verschränken sich zu einer Familiengeschichte über drei Generationen und hundert Jahre, 1908 bis 2008. Lafons Erzählung ist von einer tiefen Zärtlichkeit für ihre Figuren getragen. Man ist mittendrin in ihrer Welt zwischen dem hoch gelegenen Dorf im Cantal, der Provinzstadt im Lot und dem fernen Paris, spürt der Veränderung der Lebensverhältnisse nach.

Über die Autorin / über den Autor:

Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt des Zentralmassivs, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle. Die Annonce, 2020 beim Rotpunktverlag erschienen, wurde mit dem Prix Pages des libraires ausgezeichnet und von Arte verfilmt. Für Geschichte des Sohnes bekam Lafon 2020 den Prix Renaudot.

Andrea Spingler, 1949 geboren, lebt in Oldenburg und in Südfrankreich. Sie übersetzte unter anderem Marguerite Duras, Patrick Modiano, Alain Robbe-Grillet, Maylis de Kerangal und Pascale Kramer ins Deutsche. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction und 2021 für ihr Gesamtwerk von Übersetzungen aus dem Französischen mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.

Preis: CHF 26.00
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Andrea Spingler)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2022 (2020)
Verlag: Rotpunktverlag
ISBN: 978-3-85869-940-4
Masse: 147 S.

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