Karine Tuil

Menschliche Dinge

Karine Tuil zitiert gegen Ende ihres provokativen Gesellschaftsromans Les choses humaines, in dem die MeToo-Debatte mit schriftstellerischem Tiefgang abgewickelt wird, den Philosophen Nietzsche: "Es gibt keine Wahrheit, es gibt nur Ansichten der Wahrheit." Diese Erkenntnis wird in der Geschichte der bürgerlichen Kleinfamilie Farel nachvollziehbar. Der normale Alltag dieses angesehenen intellektuellen Ehepaars im Paris der Gegenwart gerät plötzlich durch einen sexuellen Übergriff aus den Fugen. Wir Lesende sind mit einer komplexen Situation konfrontiert. Der bewusst gewählte, unterschiedliche Blickwinkel auf die agierenden Personen und der stetige Perspektivenwechsel erschweren eine klare Stellungnahme und verunsichern. Was und wem soll man glauben? Der Wunsch, dass der Zweifel aufhöre, nährt die Leselust.

Im Zentrum des Romans steht die Familie Farel. Jean ist ein bekannter Fernsehjournalist mit eigener Politiksendung. Seine Frau Claire ist der französischen Öffentlichkeit ebenso bekannt. Sie setzt sich schreibend für feministische Anliegen ein. Alexandre ist der einzige Sohn, hochbegabt und im Studium ein Überflieger. Die Selbstwahrnehmung der Protagonisten konnotiert Leistungswille und Karrierebewusstsein. Aber Karine Tuil zeigt die Risse und blickt in verletzte Seelen.

Die Familie Farel ist eine Vorzeigefamilie. Aber es ist eben nicht alles Gold, was glänzt. Jean – er geht auf die sechzig zu – kämpft verbissen gegen das unausweichliche Alter an. Er ringt, ab und zu auch mit unehrlichen Mitteln, um die Erhaltung seiner Machtposition im Beruf. Der schnelle kulturelle Wandel, der in allen Bereichen des menschlichen Lebens sein Gewaltpotential manifestiert, schlägt ihm mit Härte entgegen. Claire ist in ihrer Rolle als Mutter und berufstätige Frau stark gefordert. Sie spürt, dass ihre Ehe mit dem um viele Jahre älteren Mann, der ihr früher Sicherheit gab, nicht mehr befriedigt. Sie sucht die Leidenschaft und die "echte Liebe" und beschliesst, mit einem gleichaltrigen Liebhaber dieses Begehren zu stillen. Sie verlässt – wie auch schon ihre Mutter – Mann und Sohn. Alexandre, der bewunderte Sohn, versucht mit einer Mischung aus Verzweiflung – er hat einen Suizidversuch überlebt und eine gescheiterte Liebesbeziehung hinter sich – und Zynismus, den Erwartungen der Leistungs-und Spassgesellschaft zu genügen.

Karine Tuil seziert messerscharf den kulturellen Wandel. In der Beschreibung des Denkens und Handelns ihrer Figuren scheint immer wieder das Thema der Gewalt in ihren unterschiedlichen Facetten auf. Arroganz, Gier, Härte und Gefühlskälte gewinnen in den Menschen die Oberhand. In einer Winternacht des Jahres 2016 strauchelt der materiell verwöhnte und bewunderte Sohn. Auf dem Heimweg von einer ausgelassenen Party hat er Sex mit einer Studentin, die ausgerechnet auch noch die Tochter des Liebhabers seiner Mutter ist. Für die junge Frau ist es eine Vergewaltigung. Sie klagt Alexander an.

Ein beträchtlicher Teil des Romans ist diesem Thema und dem folgenden juristischen Prozess gewidmet. Mit überdeutlichen Worten wird die Vergewaltigung vor den urteilenden Richtern und einer breiten Öffentlichkeit aufgerollt. Als Lesende wird man buchstäblich hineingerissen in einen Strudel der Gefühle: Abscheu und Ekel, Verständnis und Mitgefühl, aber für wen? Wer ist nun tatsächlich das Opfer, wer der Täter? Das Ende des Romans überrascht.

Das Buch, das 2019 den Prix Goncourt des lycéens und den Prix Interallié erhielt, ist sehr lesenswert. Das Besondere liegt in der illusionslosen Darstellung unserer heutigen Leistungs- und Spassgesellschaft und dem, was sie aus den Menschen macht. Les choses humaines zeigen bei Karine Tuil ihre brutale Seite. Angela Willimann

Klappentext:

Die Farels sind schön und reich, haben Einfluss und Macht: Jean Farel ist ein prominenter Fernsehjournalist, seine Frau Claire eine Intellektuelle, bekannt für ihr feministisches Engagement. Ihr Sohn Alexandre, gutaussehend, sportlich, eloquent, studiert an einer Elite-Uni. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch, könnte man meinen. Doch eines Morgens steht die Polizei bei den Farels vor der Tür, eine junge Frau hat Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet. Die glanzvolle gesellschaftliche Fassade zeigt gefährliche Risse.

Inspiriert vom "Fall Stanford" und vor dem Hintergrund der #MeToo-Debatte, erzählt Karine Tuil in Menschliche Dinge von den Auswüchsen einer Gesellschaft, die auf Leistung und Selbstdarstellung getrimmt ist, in der sich jeder nimmt, was er haben will.

Über die Autorin / über den Autor:

Karine Tuil, geboren 1972, Juristin und Autorin mehrerer gefeierter Bücher, darunter der Roman Die Gierigen. Zuletzt erschien ihr vielbeachteter Roman Die Zeit der Ruhelosen, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Karine Tuil lebt mit ihrer Familie in Paris.

Maja Ueberle-Pfaff lebt und arbeitet als freie Literaturübersetzerin und Autorin in Freiburg/Breisgau. Sie hat u.a. Werke von Mark Twain, Jules Verne, Alice Walker und Catherine Cusset ins Deutsche übertragen.

Preis: CHF 17.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2021 (2019)
Verlag: Ullstein
ISBN: 978-3-548-06528-1
Masse: 384 S.

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