Jean Malaquais

Planet ohne Visum

Planet ohne Visum versetzt die Lesenden in das Marseille des Zweiten Weltkrieges, als der Süden Frankreichs noch nicht von den Deutschen besetzt war, als es noch zur freien Zone gehörte und das einzige Tor aus dem kriegswahnsinnigen Europa heraus war. Dieses Marseille des Jahres 1942 wird von den unterschiedlichsten Menschen bewohnt, die Malaquais in seinem Roman porträtiert. Da sind die Geflüchteten aus anderen europäischen Ländern, die aufgrund ihrer politischen oder wissenschaftlichen Tätigkeit oder weil sie Juden sind, verfolgt werden und ein Visum aus Europa hinaus suchen; da sind die französischen Juden und Jüdinnen, die auch vom französischen Vichy-Régime gefangen genommen werden und in Les Milles, einer alten Ziegelei in der Nähe von Aix-en-Provence, auf ihren Abtransport warten; die französischen Untergrundkämpfer gegen die Besatzung, gegen Vichy und für die Arbeiter:innen; die dekadente französische Oberschicht, die selbst in den dunkelsten Momenten nicht auf ihre Privilegien verzichten will; und da ist das Vichy-Régime in seiner absurd anmutenden Kollaboration mit Nazi-Deutschland und die französischen Nazis, die sich in verschiedenen Milizdiensten den Nazis nützlich machen und einen patriotischen Faschismus zum Ziel haben; und Menschen, die verzweifelt versuchen, anderen Menschen zu helfen, ihnen Visa zu beschaffen. Malaquais breitet auf faszinierende Art und Weise ein vielfarbiges, fein geästeltes Mosaik aus, zeigt die Vielschichtigkeit und Komplexität der Schicksale während dieser Jahre auf.

Malaquais schreibt jeweils von einer Perspektive einer seiner zahlreichen Protagonist:innen aus. Diese Perspektive kann auch auf das Gegenüber übergehen, manchmal mitten im Satz. Als Lesende erhält man das Gefühl, sich durch die Köpfe der verschiedensten Menschen hindurchzumäandrieren, auch durch Orte und Zeiten. Dabei tauchen Personen auf, verschwinden wieder, tauchen ab, plötzlich sind sie wieder da oder in einem Nebensatz einer anderen Person wird auf deren Tod verwiesen. Zusammengesetzt wird das Mosaik aus ganz unterschiedlichen stilistischen Formen, aus burlesken Szenen, die einen zum Lachen bringen, aus inneren politisch-philosophischen Monologen; aus genauen Beschreibungen ganz unterschiedlichster Milieus. Letztendlich gibt es keine kohärente Erzählung, die auf ein Ende hinausläuft, sondern eine Myriade an Einzelsträngen von Schicksalen, die in Marseille zusammenkommen – und wieder verschwinden. Der letzte Satz ist: "Niemand beachtete ihn." Eine gute Vorstellung, in einer Welt der Verfolgung, der Verhaftungen, der Enttarnungen.

Planet ohne Visum ist ein funkelnder, blitzender, schillernder Roman, der nun endlich auf Deutsch zugänglich ist. Dass er aus dem Jahre 1947 stammt, merkt man dem Schreiben manchmal an, doch ist das kein Grund, nicht in dieses Universum einzutauchen – im Gegenteil! cn

Klappentext:

Marseille 1942, einige Monate vor der endgültigen Besetzung der Freien Zone durch die Deutschen. Der grosse Mittelmeerhafen quillt über von Menschen, die vor dem Krieg fliehen und auf die Überfahrt nach Amerika, in eine ungewisse Zukunft hoffen. Die Stadt ist wie eine Reuse, in der die Unerwünschten und vom Vichy-Regime Verfolgten zappeln und täglich versuchen, den Spitzeln und Denunzianten zu entwischen. 

Fast dreissig Romanfiguren, deren Schicksale auf mehr oder weniger verhängnisvolle Weise miteinander verstrickt sind, lässt Malaquais auftreten: Flüchtlinge, Aktivisten der Résistance, Vertreter internationaler Hilfsorganisationen, Legionäre, Devisenschieber, Spitzel und Mitläufer aller Art. Zum Teil sind sie angelehnt an historische Figuren wie Victor Serge, Walter Benjamin und Varian Fry, der zahlreichen Verfolgten zur Ausreise verholfen hat – darunter Jean Malaquais selbst – und dem der Roman in der Figur des Aldous Smith ein Denkmal setzt. 

Planet ohne Visum ist zugleich Agententhriller und Milieustudie, ein packendes Epos der Menschen ohne Papiere, dessen elegante Sprache und stilistischen Reichtum Nadine Püschel meisterhaft ins Deutsche übertragen hat. 1947 in Frankreich erschienen, liegt der Roman damit erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Über die Autorin / über den Autor:

Jean Malaquais, 1908 als Wladimir Malacki in eine säkulare jüdische Familie in Warschau geboren, war Autor und Übersetzer, Kosmopolit und Marxist. Seit den 1920er Jahren in Frankreich, schrieb er auf Französisch und erhielt für seinen Debütroman Les Javanais 1939 den Prix Renaudot. Im 2. Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft, schliesslich Flucht über Marseille in die USA. Jean Malaquais war u.a. befreundet mit André Gide, André Breton, Max Ernst, Victor Serge, Heinrich Mann, Walter Benjamin und Norman Mailer, dessen Roman Die Nackten und die Toten er übersetzte. In den 1990er Jahren begleitete Malaquais die Neuausgaben seiner Werke in Frankreich; er starb 1998 in Genf.

Nadine Püschel, geboren in Starnberg, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und lebt als Übersetzerin für englische und französischsprachige Literatur und audiovisuelle Medien in Berlin.

Preis: CHF 42.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Nadine Püschel)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2022 (1947)
Verlag: Nautilus
ISBN: 978-3-96054-294-0
Masse: 664 S.

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