Andrea Camilleri

Brief an Matilda

Ein wunderbares kleines Buch. Ich habe es geschenkt bekommen und würde es jederzeit auch verschenken: an den Bekannten, der oft nach Italien fährt, an die Freundin, die Italienisch lernt. Andrea Camilleri, der bekannte Krimiautor aus Sizilien, hat das Büchlein für Matilda, seine vierjährige Urenkelin, geschrieben. Der 92jährige, halb blinde Schriftsteller – der wenig später verstorben ist – will, dass das Mädchen, das da unter seinem Pult spielt, später nicht nur von andern über ihn, seine Zeit und seine Geschichte erfährt. In einfachen Worten erzählt er aus seinem Leben: vom sizilianischen Jungen, der während des Faschismus gross wurde, vom politisch engagierten Zeitgenossen, vom passionierten Theatermenschen, vom spätberufenen Schriftsteller, der mit seinem Commissario Montalbano zum Erfolgsautor wurde.

1925 im Fischerdorf Porto Empedocle geboren, ist Camilleri, der selber aus einer mittelständischen Familie stammt, mit der Armut seiner Schulkollegen konfrontiert, die ihre Schuhe um den Hals tragen und erst im Klassenzimmer anziehen, um sie weniger schnell abzunutzen. Auch ist einige Jahre nach der Machtergreifung Mussolinis der Faschismus tief in der Gesellschaft verankert und er selber, wie er sagt, mit zehn Jahren ein glühender Faschist. Sein Unbehagen gegenüber dieser Ideologie wächst jedoch bald aufgrund konkreter Vorkommnisse und dadurch, dass er früh viel liest, auch wenn er in der Mittelschule eher durch Schwänzen und Aufsässigkeit glänzt. Er hat das Glück, dass er nur neun Tage Militärdienst leisten muss, weil dann, 1943, die Amerikaner in Sizilien landen.

Nach dem Krieg geht er nach Rom, engagiert sich in der kommunistischen Partei, schreibt Gedichte und Theaterkritiken und bringt sich mit allerlei Gelegenheitsjobs durch, bis er nach einer Ausbildung an der Theaterakademie zunehmend Regie- und Lehraufträge übernehmen kann. Später wird er beim staatlichen italienischen Radio und Fernsehen für Kulturprogramme verantwortlich sein. Irgendwann lernt der junge Mann, der bisher mit Leichtigkeit von einer Frauenbekanntschaft zur andern wechselte, Rosetta kennen, und ist seit mehr als sechzig Jahren, mit dieser Frau zusammen, die ihm – zum ersten und einzigen Mal – am Hochzeitstag eine Ohrfeige verpasst hat. Das Paar hat drei Töchter und Rosetta, die im staatlichen Gesundheitswesen Karriere macht, hält es mit ihm aus, auch wenn er, wie er selber sagt, nie einen einfachen Charakter hatte.

Obwohl er schon als Jugendlicher Gedichte und Erzählungen verfasste, schreibt er erst mit über 40 seinen ersten Roman. Dabei greift er auf den sizilianischen Dialekt zurück um mehr Authentizität zu schaffen. Das ist vermutlich der Hauptgrund, warum das Buch erst zehn Jahre später erscheint. Von da an wird das Schreiben für ihn immer wichtiger. 1994 schliesslich, mit nahezu 70 Jahren, veröffentlicht er zum ersten Mal einen Krimi mit dem Commissario Montalbano, der ihn weltbekannt machen wird. Camilleri selbst hält sich nicht für einen grossen Autor, sondern einfach einen Geschichtenerzähler und man glaubt ihm, dass ihm seine Berühmtheit nicht in den Kopf gestiegen ist.

Mit Leichtigkeit und gelegentlicher Selbstironie beschreibt er sein langes Leben. Wir lernen nicht nur die italienische Theaterszene der Nachkriegsjahre kennen, sondern auch Camilleris Sicht auf die politischen Entwicklungen in Italien und Europa während des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit. Trotz der Zunahme von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Terrorismus, der ungebrochenen Macht der Mafia und dem sehr mangelhaft realisierten europäischen Projekt, bleibt Camilleri zuversichtlich. "Ich habe keine Sehnsucht nach der Vergangenheit wie viele alte Leute", meint er zum Schluss, "ich glaube im Gegenteil, dass mir das Alter einen gewissen Optimismus verleiht. Ich glaube an die Menschheit, ich vertraue auf den Menschen." Es sind nicht die Alten, deren Zeit bald vorbei ist, sondern die Jungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben neu definieren, der Politik ihre verlorene Ethik wieder zurückgeben werden. Elisa Fuchs

Klappentext:

Andrea Camilleri ist über neunzig Jahre alt, seine jüngste Urenkelin fast vier. Während er schreibt, wuselt die kleine Matilda unter seinem Schreibtisch herum und spielt vor sich hin. Da beschliesst er, ihr einen langen Brief zu schreiben. Sie soll ihn lesen, wenn sie gross ist.

Auf Seiten, die voller Gefühl, Humor und Aufrichtigkeit sind, durchlebt Camilleri noch einmal die Etappen seines Lebens, von Kindheitserinnerungen an die Mussolini-Ära über die bleiernen Jahre und Berlusconi bis hin zu einem Mafia-Blutbad in seiner Heimatstadt. Und er erzählt von der ersten Begegnung mit Rosetta, der Liebe seines Lebens.

Er schreibt über seine sizilianischen Wurzeln, über Liebe, Freundschaft, Politik, Literatur. Dabei hat Camilleri durchaus den Mut, Fehler zuzugeben. Es gibt keine Sicherheiten, die er Matilda mitgeben kann. Dafür aber die wertvolle Kunst des Zweifels.

Mit Leichtigkeit erzählt, pointiert, humorvoll: ein Geschenk fürs Leben.

Über die Autorin / über den Autor:

Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er war Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur und lehrte über zwanzig Jahre lang an der Accademia d'Arte Drammatica Silvio D'Amico. Seit 1998 stürmte jeder Titel des Autors die italienische Bestsellerliste. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat er sich auch einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Im Kindler Verlag sind etliche seiner Werke erschienen. Andrea Camilleri war verheiratet, hatte drei Töcher, vier Enkel und lebte in Rom. Er starb am 17. Juli 2019 im Alter von 93 Jahren in Rom.

Preis: CHF 28.90
Sprache: Deutsch (aus dem Italienischen von Annette Kopetzki)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2019 (2018)
Verlag: Kindler
ISBN: 978-3-463-00002-2
Masse: 126 S.

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