Elena Medel

Die Wunder

Wunder ist ein Roman über die individuelle innere Freiheit und das Verhängnis, Geld zu haben oder nicht zu haben. Es geht um Mutter-Tochterbeziehungen und Frauenemanzipation im Nachkriegsspanien. Wunder zeichnet gekonnt anhand zweier Frauenleben die sechziger Jahre unter Franco und die darauf folgenden Jahre der ersten sozialistischen Regierung nach und endet mit dem grossen Frauenstreik 2018 in Madrid.

Abwechselnd berichtet die Autorin aus dem Leben von Maria und ihrer Enkelin Alicia. Teilweise sprechen diese beiden Protagonistinnen auch direkt zu uns. Die Kapitel sind nicht chronologisch und enden gerne mit einem offenen Schluss, den die Lesenden jedoch selbst schliessen können, sei es, weil sie die benötigte Information aus der Sicht der Enkelin oder Grossmutter in einem vorausgegangen Kapitel bereits erfahren haben, oder weil sie die Auflösung in einem kommenden Kapitel erfahren werden. Die Einzelteile fügen sich Schritt um Schritt zusammen. Carmen, sozusagen die Frau dazwischen, Tochter von Maria und Mutter von Alicia, besitzt keine eigenen Kapitel oder direkte Redepassagen im Buch. Wir erfahren über ihr Leben durch andere Personen, sei es durch ihren Ehemann, den Onkel Chico, ihre Mutter oder ihre Tochter. Die Verschachtelung widerspiegelt sehr passend die schmerzhaften Wiederholungen und emotionalen Verletzungen und Verstrickungen, die in diesen drei Frauengenerationen erlebt werden, die aber gleichzeitig auch drei ganz andere Geschichten sind. So ist die Protagonistin mal Mutter, mal Grossmutter, mal Enkelin, die Perspektiven wechseln auch innerhalb des Kapitels mehrmals und ganz unerwartet.

Beide Protagonistinnen verschlägt es nach Madrid, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Die minderjährige Maria wurde wegen einer ausserehelichen Schwangerschaft von Cordoba nach Madrid verstossen und musste die Tochter zurücklassen. Alicia hingegen flieht vor ihrem Trauma: Der Vater begeht von Schulden erdrückt Selbstmord, und die Familie erlebt einen unerwarteten sozialen Abstieg. Sie schreibt sich an der Uni für Audiovisuelle Kommunikation ein, obwohl sie eigentlich Filmwissenschaften studieren möchte. Aber dafür reicht das Geld nicht. Sie fühlt sich sozial ausgegrenzt und geht immer weniger an die Vorlesungen und angelt sich schliesslich von einem Gelegenheitsjob zum anderen. Alicia kann sich von den Ereignissen in ihrer Familie nicht erholen und fühlt sich gedemütigt. Sie verachtet alle, die sich wie sie am Rande der Gesellschaft bewegen. Maria hingegen politisiert sich und versöhnt sich mit sich. Sie besteht darauf, nicht mit ihrem Partner zusammenzuziehen und bleibt in ihrer kleinen, jedoch eigenen Wohnung.

Wunder führt auf eindrückliche Weise vor, wie bedrohlich und verhängnisvoll Schwangerschaft, Mutterschaft und Familie an sich für Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft sein können. Mutterschaft bedeutet Bestrafung, wenn unehelich und Gefangenschaft, wenn ehelich. Es ist immer ein Makel, eine Bedrohung. Die beiden Frauen reagieren auf Grund ihrer Geschichte jede auf ihre Weise: Maria verheimlicht konsequent ihr Muttersein. Wenn sie doch davon spricht, fälscht sie das Geburtsdatum. Die Nachricht von Carmens Schwangerschaft erlebt Maria wie eine Todesnachricht einer nahestehenden Person. Alicia weigert sich, schwanger zu werden und lebt Sex mit unterschiedlichen Zufallsbekanntschaften, die sie aktiv sucht.

Die Wunder in diesem Buch sind diese beiden Frauen der spanischen Unterschicht, die trotz gesellschaftlicher Einschränkungen ihr Leben gestalten. Elena Medel zeichnet sie als handelnde Subjekte und unterzieht deren Handeln keiner Wertung. Es ist für sie nicht von Bedeutung, ob die Protagonistinnen uns Lesenden sympatisch sind oder nicht. Wunder will kein Mitleid erhaschen, sondern ist eine kluge Hommage an die marginalisierten Frauen der spanischen Gesellschaft. Sehr empfehlenswert. ap

Klappentext:

María, fast noch ein Mädchen, kommt Ende der Sechziger aus der verschlafenen Provinz nach Madrid. In den Augen der Familie hatte sie einen unverzeihlichen Fehler begangen. Nun arbeitet sie als Kindermädchen, als Hausangestellte, der komplette Lohn fortan bestimmt für die zurückgelassene, fast unbekannte Tochter. Alicia, Marías Enkelin, bleibt fast fünfzig Jahre später nur die gleiche Flucht in die Stadt.

María und Alicia, beide führen sie ein Frauenleben, beiden fehlt das Geld. Und damit die Zuversicht und das Vertrauen. In sich selbst, ihre Männer, dieses Land, in dem sich alles verändert zu haben scheint, bis auf das eigene Elend. Und plötzlich fordert jede auf ihre Weise die hergebrachte Ordnung heraus.

Elena Medel schreibt die jüngere Geschichte Spaniens aus Sicht der vergessenen Hälfte. Die Wunder ist ein eleganter feministischer Bildungsroman über die herrschenden Kräfte, über das Geld, das Begehren, die Mutterliebe und wie sie als Waffen seit jeher gegen die Frauen verwendet werden.

Über die Autorin / über den Autor:

Elena Medel, geboren 1985, gelang mit ihrem Debütroman Die Wunder im Herbst 2020 ein literarischer Sensationserfolg, "die beste Lyrikerin dieses Landes hat sich mit nur einem Buch in die beste Romanschriftstellerin dieses Landes verwandelt", schrieb El País. Als erste Frau gewann sie den prestigeträchtigen Premio Francisco Umbral. Übersetzungen in 15 Sprachen folgten. Im Alter von 19 Jahren gründete Elena Medel ihren eigenen Lyrikverlag, La Bella Varsovia. Drei Gedichtbände, zwei Bücher mit Essays erschienen in unabhängigen Häusern. Elena Medel lebt in Madrid und arbeitet an einem neuen Roman.

Susanne Lange lebt als Übersetzerin (u.a. García Lorca, Juan Rulfo, Alejandro Zambra, Juan Gabriel Vázquez und Javier Marías) in Berlin und bei Barcelona. Bereits mit anderen Preisen ausgezeichnet, erhielt sie für ihre Neuübersetzung von Cervantes' Don Quijote den Johann-Heinrich-Voss-Preis. Sie ist Mitherausgeberin der vierbändigen Anthologie Spanische und hispanoamerikanische Lyrik.

Preis: CHF 31.50
Sprache: Deutsch (aus dem Spanischen von Susanne Lange)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2022 (2020)
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-43028-6
Masse: 222 S.

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