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Kulturnotizen Ägypten

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Von Mariam Ibrahim

English Version

Erdbeer-Donuts

In den letzten Tagen des Jahres 2019 arbeite ich erneut an einem Workshop mit einer Frauengruppe. Während der vergangenen zwei Monate habe ich zusammen mit zwei anderen Frauen einen Schreib-Workshop mit dem Titel "Der Geschmack von Buchstaben" co-moderiert. Der Name des Workshops stammt aus einer Rede, die die Lyrikerin Iman Mersal an der Sharjah Biennale gehalten hatte. In dieser Rede sprach sie von der Beziehung zwischen Nahrung und Sprache, unter anderem dachte sie über die Buchstabensuppe nach. Diese Suppe besteht aus kleinen Teigwarenstückchen in der Form von Buchstaben der englischen Sprache. Sie fragte sich, wie wohl die arabischen Buchstaben schmecken würden, wenn es eine solche Suppe mit arabischen Buchstaben gäbe.

Die Idee für den Workshop entstand während meiner Arbeit als Forscherin/Kuratorin mit dem Contemporary Image Collective an einem Projekt mit dem Titel "Botoun", was auf Arabisch Bäuche heisst. Das Projekt ging um die Politik und die Praktiken der Lebensmittelherstellung, deren Vertrieb und Verzehr. In der Forschungsphase  fiel es uns sehr schwer, Texte von Frauen aus der Region zu finden, die sich zu diesem Thema äusserten, insbesondere Texte auf Arabisch.

Während ich also an der Produktion eines Workshops arbeitete, der Texte über Nahrung produzieren sollte, war ich weitgehend unfähig, mich selber zu ernähren – die Ironie dieses Umstandes entgeht mir nicht. Meine Mitbewohnerinnen, die auch meine besten Freundinnen sind, haben diese Aufgabe zu grossen Teilen übernommen. Sie kauften frisches Gemüse auf dem Markt – es war die Saison für Spinat und Rucola. Sie wuschen es sorgfältig, weichten es zuerst in Essig und Wasser ein, um jede mögliche andere Lebensform zu entfernen. Dann klopften sie es trocken und legten es in Schachteln, in Schichten mit Haushaltspapier, um es lange frisch zu halten. Sie kauften Süsskartoffeln und Petersilie, um diese in einen köstlichen, orangefarbenen Brei zu verwandeln. Ich bat sie, mir Auberginen und Zucchetti zu kaufen, damit ich diese zubereiten konnte. Aber dann vergass ich sie, und sie vergammelten einsam in den dunklen Ecken unseres Kühlschrankes. Ich frage mich, ob dies wegen dem Workshop so war, ob ich durch das Konsumieren von so vielen Texten über Lebensmittel zu voll war, um dann in Wirklichkeit über Kochen oder Essen oder jede andere Tätigkeit, die in der Küche stattfindet, nachzudenken.

Seit fast einem Jahr war eine gute Freundin von uns in den Kampf mit einer Krankheit verstrickt, die immer weiter in ihrem Inneren wuchs. Dieses Wachstum hat ihren Bauch mit Schmerzen verzehrt. Mit so grossen Schmerzen, dass ich sie nicht annähernd verstehen oder beschreiben kann. Auch dies hat mich vielleicht zeitweise mit einem Gefühl von Vollheit zurückgelassen. Mit der Vollheit von Hilflosigkeit; mit dem Wunsch meine Freundin zu füttern, ohne ihr weitere Schmerzen zuzufügen; der Vollheit zuzuschauen, wie ihr Schmerz in ihr weiterwuchs, während sie dünner und dünner wurde.

Vor ein paar Wochen wurden Freunde und Kollegen in ihrem Büro verhaftet, Ausgänge versiegelt, Telefone konfisziert, weil einer von ihnen etwas geschrieben hatte, das die Männer in Anzügen verärgert hatte. (Mehr darüber ist hier zu lesen.) Inmitten dieser Krise, als ich unfähig war, unsere Freunde zu erreichen, setzten wir uns hin und bestellten Hamburger und Pommes frites. Der Hunger der Hilflosigkeit. Der Hunger, der eigentlich Ärger ist, der nirgendwohin kann. Wie durch ein Wunder wurden sie alle wieder freigelassen, und ich liess meinen Burger wieder fallen. Auf der Stelle war ich satt, und meine Herzfrequenz erhöhte sich. 

Kurz nach dieser Krise besuchte ich meine Freundin. Sie sagte mir, dass sie Lust auf Erdbeer-Donuts hatte. Es sollte unsere letzte gemeinsame Mahlzeit sein: Bananen, Erdbeer-Donuts und kleine, geröstete Kichererbsen – von der Sorte, die üblicherweise den Teilnehmer*innen eines *"Sebou" gereicht wird, eines Rituals, das am siebten Tag nach der Geburt eines Babys abgehalten wird. Dieses Ritual hat hunderte, wenn nicht tausende von Jahren überdauert. Sechs Tage später hat sie diese Welt verlassen.

Der Workshop dauert noch weiter, bis zum 21. Dezember. Seit sie uns verlassen hat, bin ich hungrig. Sogar heisshungrig. Aber an den meisten Tagen habe ich immer noch Mühe, mich selber zu ernähren. Trotz meines Hungers erscheinen mir die meisten Dinge ohne Geschmack.

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(Kein) Regengebet

Am letzten Oktoberwochenende war ich in Alexandria, meiner Heimatstadt, zu einem Hochzeitsfest eingeladen. Ein Fest, das draussen stattfinden sollte. Normalerweise wäre es die perfekte Jahreszeit für eine Freiluft-Hochzeit in Alexandria. Die Sommerhitze ist am Abklingen, und die ersten "Nawas" – schwere Winde, die während der Wintermonate bis in den Frühling das Meer aufwühlen und Regen bringen – sind noch nicht eingetroffen. Die erste "Nawa" wird "Ghaseel El Ballah" genannt, was das Waschen der Datteln bedeutet, die just zu diesem Zeitpunkt reif werden.

Das Hochzeitsfest war dasjenige der Schwester einer nahen Freundin. Die gesamte Familie war seit Monaten in dessen Planung involviert. Obwohl ich eine sehr zwiespältige Beziehung zu Hochzeitsfesten im Allgemeinen habe, versuchte ich meiner Freundin zuliebe unterstützend zu sein. Da sie ebenfalls im Planungskomitee für die Hochzeit ihrer Schwester war, habe ich in den letzten Monaten eine Menge über die Vorbereitungen gehört. Das Paar hat den "Nawas"-Kalender konsultiert, bevor sie ihr Hochzeitsfest planten und sich dafür entschieden, es am Freitag, den 25. Oktober durchzuführen. So könnten sie den Regen, der am 18. Oktober erwartet wurde, vermeiden. Aber am 18. Oktober, einem aussergewöhnlich heissen Tag für Oktober, fiel kein Regen. Am folgenden Dienstag hingegen fielen die ersten Tropfen auf meinen Kopf, als ich in Kairo auf dem Weg zur Arbeit war. Die Tröpfchen wurden bald zu Giessbächen, welche die (seien wir ehrlich, beschissene) Kanalisation einiger Teile von Kairo blockierten und zu mehreren Todesfällen führten – Menschen, die in völlig überschwemmten Strassen an Stromschlägen durch frei herumhängende elektrische Leitungen starben. 

Meine Freundin und ihre Familie gerieten in Panik und begannen in obsessiver Art und Weise die Wettervorhersagen zu konsultieren und dafür zu beten, dass es nicht regnen möge. Am Freitag morgen nahm ich den Bus nach Alexandria. In Kairo sah das Wetter recht gut aus, aber auf halbem Weg erhielt ich einen Anruf von meiner Freundin, die mir mitteilte, dass der Himmel vor riesigen grauen Wolken strotzte. Je mehr wir uns Alexandria näherten, desto praller wurden die Wolken, bis wir schliesslich in die Regenzone eintauchten. An der Bushaltestelle holte mich mein Vater ab, der mir angeboten hatte, mich zu der gemieteten Villa, wo das Hochzeitsfest stattfinden sollte, zu bringen. Unterwegs begann das Auto ein wenig zu schlittern, da immer mehr Wasser die Strassen überschwemmte. Aber wir fuhren vorsichtig weiter und geleitet vom GPS gelangten wir in ein Gebiet mit schlammigen, nicht-asphaltierten Strassen und grossen, protzerischen Villas – dann verloren wir den Empfang. Da wir befürchteten, dass wir im Schlamm steckenbleiben könnten, fuhren wir zurück, bis wir wieder Empfang hatten und mich meine Freundin endlich erreichte, um mir mitteilen zu können, dass das Fest nach drinnen verlegt worden war. Der Gartenbereich war vollkommen überflutet. Wir fuhren also den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren, und gelangten zum neuen Veranstaltungsort, nur um dort festzustellen, dass die Regierung den Strom im ganzen Gebiet abgestellt hatte. Möglicherweise aus Angst vor weiteren Unfällen. Der DJ sass zusammen mit seinem Auto im Schlamm fest, irgendwo unterwegs von der ursprünglichen Festadresse an den neuen Veranstaltungsort. Die Braut hatte ihr Haar erst zur Hälfte machen lassen können, als der Strom ausfiel. Ein Notgenerator war zwar bestellt, aber er wurde noch irgendwo aufgeladen. Unterdessen begannen die Gäste in die Empfangshalle zu strömen, die plötzlich voll war von älteren Grossmüttern, Kindern und einem kleinen Golden Retriever-Welpen in einem Rock. Es war ungefähr drei Uhr nachmittags, als sich der Himmel verdüsterte und Blitze, Donner und Windböen die Kulisse für die Ansammlung der Lebewesen bildete, die sich in der improvisierten Hochzeitshalle zusammenzwängten. Zu diesem Zeitpunkt traf meine Freundin, die Schwester der Braut, ein und entschuldigte sich halb in Tränen aufgelöst auf alle Seiten: "Alles, was schief gehen konnte, ging schief." Am Schluss wurde die Hochzeitszeremonie, mit der zur Hälfte frisierten Braut und im Licht von Smartphones, vom Ma’zoun durchgeführt. Der Ma’zoun ist eine legal autorisierte Person, die muslimische Hochzeiten und Scheidungen durchführen darf. Er konnte nicht warten, bis der Generator eingetroffen war. Der DJ wurde auch noch rechtzeitig aus dem Schlamm gerettet um noch ein paar Lieder zu spielen.

Wir – Freunde und Familie – schafften es, die Braut nach ihrem Fest, das Tausende von Pfund gekostet hatte, wieder ein wenig aufzuheitern. Es wurde von einem Sturm ruiniert, den die Washington Post "Medicane" nannte (in Anlehnung an den Hurricane, der früher selten im Mittelmeergebiet auftrat, jetzt aber aufgrund der steigenden Wassertemperaturen immer wahrscheinlicher wird). Die ägyptischen Wettervorhersage-Behörden spielten den Sturm herunter und behaupteten, es sei eine ganz normale Erscheinung, die sie liebevoll "Hamada" – ein geläufiger Kurzname für Jungen mit dem Namen Mohamed – nannten. Ob es sich nun um einen "Medicane" oder einen "Hamada" handelte, es wird vorausgesagt, dass Alexandria zusammen mit der gesamten Deltaregion in 30 Jahren überflutet sein würde. Daran dachten mein Vater und ich, als wir vom einen an den anderen Veranstaltungsort unterwegs waren. Mein Vater grübelte darüber nach, dass die Überflutung wohl sicherlich nicht das erste Mal sein würde. Ist diese Stadt aber nun ein Opfer der Geographie oder des Schicksals? Oder der Korruption, der Gier oder des Kapitalismus, der bis zur Auslöschung geht? Die Tante der Braut witzelte, dass diese erste "Nawa" nach der Braut benannt werden müsste. Aber mir scheint, dass die Zeit selbst auseinanderfällt, wenn die Jahreszeiten, welche Bauern und Seefahrer über Jahrhunderte hinweg gekannt haben, nicht mehr gelten.

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Hamada ist ein Wal

"Hamada ist ein Wal, Vater, Hamada ist ein Wal." Das Wehklagen wiederholt sich, "Hamada ist ein Wal, Vater". Der Sänger, Ibrahim X, ist vom Publikum umringt, während Younes (Arabisch für Jonathan, wie im Koran erwähnt) wie wahnsinnig auf seinem Midi-Controller herumdrückt und damit Wellen von melodischen Noten aussendet, die die Körper zu einer einzigen sich bewegenden Masse zusammenschmelzt. In einer Ecke stehend, die Menge beobachtend fühlte ich mich wie in einem Gebet versunken. Der wiederholte Hinweis auf den Walfisch im Lied (hier können Sie es sich anhören) ruft in einem das Bild hervor, verschluckt zu sein vom Leben selbst vielleicht oder von dem, was einem helfen sollte, diesem zu entfliehen.

Der Raum war vollgepackt mit Menschen, die meisten zwischen 18 und 30 Jahren alt, Männer und Frauen, ÄgypterInnen und AusländerInnen, die alle zu der Musik tanzten. Es war die zweite Veranstaltung dieser Art, die Hizz, ein in Kairo und Detroit ansässiges Plattenlabel, Organisator von KünstlerInnenresidenzen und Plattenladen organisiert worden ist. Hizz hat sich zum Ziel gesetzt, Avant Garde-Kunst und -Musik im Nahen Osten wie auch in der Diaspora bekannt zu machen. In Kairo sind sie in einer Wohnung in Garden City untergekommen. Die Veranstaltung mit dem Namen "Open Hause Saturdays" ist gratis und präsentiert aufstrebende junge KünstlerInnen gemeinsam mit etablierteren Namen. Eines der Hauptprobleme der Musikszene in Kairo ist, dass es zu wenig Lokale gibt, die bereit sind, kleine Livemusik-Events zu veranstalten. Während also digitale Plattformen wie Soundcloud, Bandcamp und Youtube den KünstlerInnen erlauben, mehr und mehr ZuhörerInnen zu erreichen, haben sie gleichzeitig immer weniger Möglichkeiten, untereinander und mit ZuhörerInnen in einem Live-Setting zu interagieren – oder gar Geld mit ihrer Kunst zu verdienen. Das trägt natürlich nicht zur Nachhaltigkeit der Kunstszene bei, auch nicht zu ihrer Entwicklung. Für mich war es das zweite Mal, dass ich an einer Performance von Younes und Ibrahim X in Kairo teilnahm. Beides sind Künstler bei Kafr Al Dawar Recordings (hier ihre Facebook-Seite), einem unabhängigen digitalen Plattenlabel, das in Kafr El-Dauwar, in der Provinz Beheira, beheimatet ist, woher die beiden Künstler kommen. Das Label möchte eine Plattform für junge KünstlerInnen bieten, wo sich die verschiedenen Musikgenres gegenseitig befruchten können, wie beispielsweise electronic und dance, experimental und shaabi (eine Form von populärer ArbeiterInnenmusik). 

So stand ich also in dem überfüllten Raum, in dieser Wohnung mit Blick auf den Nil, am Samstag abend vor dem "Eid El Adha". In meinem Körper floss mein Blut still in meine Unterhosen, meine Periode war zu früh eingetroffen, vielleicht eine Vorahnung von dem Blut, das in den Strassen vergossen werden wird, im Morgengrauen von "Eid Al Adha". "Eid" ist arabisch für Fest oder Feier, und "Adha" leitet sich von der Wurzel "Daha" ab, was Opfer bedeutet. Denn am Opferfest spenden die Gläubigen ein Opfertier, dessen Fleisch unter den Familienangehörigen und den Armen verteilt wird.

Nach der Party lud ich meine Freundin S dazu ein, die Nacht in meiner Wohnung zu verbringen, da sie die Nacht nicht alleine bei sich zuhause sein wollte. Denn beide ihre Mitbewohnerinnen waren für die Eid-Ferien weggefahren. Am folgenden Tag verliessen wir meine Wohnung, um zu ihr zu gehen und nach ihren Katzen zu schauen. Bevor wir das Haus verliessen, haben wir gefrühstückt. Spinat und Pilze auf einem Bett von Randen-Hummus, eingebettet zwischen Brot. Die Randen färbten den Hummus rot, blutrot. Die Strassen waren fast völlig leer, die Geschäfte waren geschlossen, ausser einem Kiosk, wo wir Zigaretten und eine Flasche kaltes Wasser kauften, um unsere ausgetrockneten Münder zu benetzen. Es gab keine sichtbaren Spuren von Blut in den Strassen, nur ein schwacher Geruch, der wie ein Geist in der Luft spukte. Der "Eid-Effekt" war in vollem Gange. Das Opfertier wird in den meisten muslimischen Haushalten im Morgengrauen geschlachtet, danach wird gegessen, dann geschlafen, möglicherweise bis es wieder Zeit zum Essen ist. Die Sonne schien erbarmungslos auf die leeren Bürgersteige, bis wir endlich ein Taxi gefunden haben. Einem alten lächelnden Mann wünschten wir ein glückliches Eid, als wir aus dem Taxi stiegen, um die Treppen zur Wohnung meiner Freundin hinaufzusteigen.

Meine Freundin ist Muslimin auf ihrer ID, und ich bin Christin auf meiner. Religion ist eine grosse Sache in Ägypten, aber gleichzeitig ist sie es manchmal auch nicht. Die Art, wie sie den Raum in Anspruch nimmt, wie viel Raum sie in Anspruch nimmt und in welcher Form, verändert sich laufend. Die Dinge bleiben sich gleich und eben doch nicht. Wir schliessen die Fensterläden der Wohnung, um uns vor der Hitze zu schützen, und spielen mit ihren beiden Katzen, während wir rauchen, Tee trinken und dann wieder Kaffee trinken. Mein Geburtstag ist anfangs August, derjenige meiner Freundin Ende August. Dieses Jahr war Eid dazwischen gezwängt. Das hat vielleicht unsere Gedanken in Richtung Kindheit, Familie, Religion, Gott und wo wir ihn, sie, es finden könnten, geleitet, und auch in Richtung Tod und das Ende der Zeit.

Meine Mutter rief mich an, um mir zu sagen, dass sie auf meinen Besuch in Alexandria wartete. "Du kannst allen Fisch essen, nach dem es Dich gelüstet", sagte sie. Es ist das Jungfrau Maria-Fasten, das für koptische Christen vom 7. bis zum 22. August dauert. Während dieser Zeit verzichten die Kopten auf das Essen von allen tierischen Produkten, ausser auf Fisch und Honig. Vielen meiner Freunde und Freundinnen graut es vor Eid, so wie es auch mir vor Eid El Milad (Weihnachten) und Eid El Qeyama (Ostern) graut. Für viele Leute bedeuten die Festtage, dass sie zu viele Familienmitglieder sehen, die sie normalerweise nicht sehen, und dass sie den Stress, ausgelöst durch dieses Über-Sozialisieren mit  dem Herunterschlingen von üblicherweise schweren, wenngleich köstlichen Speisen, überkompensieren. Aber während das muslimische Opferfest ein nationales Fest ist, ist das für die christlichen Feste weniger so. Sie nehmen nicht den gleichen Raum in der Öffentlichkeit ein.

Aber ich mag diese Eid-Ferien. Da meine Familie Eid nicht feiert, habe ich keinen Druck, diese Tage mit meiner Familie zu verbringen, und es scheint, dass die Schinderei des täglichen Lebens zu einem vollständigen Stillstand kommt. Dies ist an Weihnachten und Ostern nicht so, da diese Feste nur von der christlichen Minderheit gefeiert werden. Zeit fühlt sich während Eid anders an, irgendwie weicher und weiter. Aber auch Eid, so wie alle Dinge, kommt zu einem Ende. Was, wenn das Ende der Zeit in Wirklichkeit einfach das Ende des unerbittlichen Rhythmus des Lebens im Kapitalismus ist? Ich finde, ich brauche solche Nischen, solche Zeittaschen ausserhalb des Alltags, wo es keine Emails gibt und wo man dem Rhythmus eines Katzenlebens folgen kann, schlafen, essen und meditieren.

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Carmen damals und heute

Zusammen mit zwei Freundinnen machte ich mich auf den Weg zum Hanager Theatre, das auf dem Gelände des Cairo Opera House untergebracht ist. Da wir lange vor Beginn der Aufführung ankamen, wollten wir noch ein paar Flaschen Wasser kaufen. Nach einigem Herumfragen fanden wir heraus, dass der nächste Kiosk in einer Gehdistanz von sieben Minuten entfernt lag, am anderen Ende des Opern-Geländes. Unterwegs traf ich eine Freundin, die mutmasste, dass die Verwaltung dazu angehalten wurde, den Ort so ungastfreundlich wie nur möglich zu gestalten, um das Herumbummeln nach den Veranstaltungen zu unterbinden und somit auch die Jugendlichen davon abzuhalten, lange auf dem Gelände zu bleiben, sich zu treffen und zu unterhalten. Während unseres Pilgerns auf der Suche nach Wasser, sprachen wir über unsere eigenen Aufführungserfahrungen.

So habe ich erfahren, dass meine Freundin mit den Vagina Monologues aufgetreten ist, einem Theater, das persönliche Geschichten über das Frausein dargestellt hat. Die Vagina Monologues sind in Amerika von Eve Ensler entwickelt worden und danach durch die ganze Welt getourt. Auch in Ägypten fand eine Aufführung auf der Bühne der American University of Cairo statt. Ich wiederum habe früher mit dem BuSSy Project gearbeitet – einem Projekt der darstellenden Künste, das von den Vagina Monologues inspiriert war, seinen Ursprung und seine Grundlagen aber in Ägypten hatte. Es begann als eine studentische Aktivität auf dem AUC Campus. Dann wurde es zu einem eigenen Projekt, da die Leute, die sich damals für die Sache engagiert hatten, daran interessiert waren, ein vielfältigeres Publikum anzusprechen. Im Gegensatz zu den Vagina Monologues hat dieses Projekt auch Männer einbezogen, als sich der Fokus von Frauenthemen in Richtung Gender und genderspezifische Erfahrungen verschoben hat.

In eben dieser Nacht aber waren wir im Hanager Theater, um uns das Stück Carmen, inszeniert von Reem Hegab, anzusehen. Wir beide hatten Freundinnen, die in der Aufführung mitspielten. Für mich war es das erste Mal, dass ich mir ein Musical auf der Bühne ansah, seit ich in den 90er Jahren mit meiner Familie Aladdin on Ice von Disney gesehen hatte. Die Tickets kosteten 30 Ägyptische Pfund – was billiger ist als ein Eintritt in den meisten Kinos in Kairo. Wahrscheinlich ist das möglich, weil das Zentrum von der Regierung subventioniert ist.

Das El Hanager Art Center bot von den späten 80er Jahren bis in die frühen Nullerjahre Raum für eine pulsierende unabhängige Experimental-Theaterbewegung. Doch dann, ungefähr zum Zeitpunkt der US-Invasion in den Irak, wurde das Zentrum völlig überraschend von der Regierung "renoviert". (Hier ein Link zu der Geschichte des Theaters.) Es wurde spekuliert, dass dieser Eingriff mehr mit der Besorgnis der Staatssicherheit über die Politisierung der wachsenden Theaterbewegung zu tun hatte und über deren Unterstützung des Widerstandes gegen den Krieg im Irak, als mit einem tatsächlichen Bedarf an Renovation. Und selbst wenn das Hanager Theater seither wiedereröffnet worden ist, sind einige Theaterstücke und SchauspielerInnen gesperrt worden, so auch eine der Aufführungen des BuSSy Project im Jahre 2015. (Hier ein Link zu mehr Informationen darüber.)

Die Inszenierung durch Reem Hegab ist nicht die erste Adaptation von Carmen für die ägyptische Bühne. Genau vor zwanzig Jahren hatte Mohamed Sobhy, der zum festen Inventar der ägyptischen Mainstream-Theaterszene der 90er Jahre gehörte, seine Version der Carmen präsentiert. Er spielte darin zusammen mit dem ägyptischen Bad Girl der damaligen Zeit, mit Simone, die Hauptrolle. Simone ist ein unglaublich vielseitiges Talent gewesen: sie hat gesungen, getanzt und ist auf der Bühne gestanden. Oft wurde sie in der Presse "ägyptische Madonna" genannt. Simone ist inzwischen in ziemlicher Dunkelheit versunken, und Mohamed Sobhy ist heute bekannter für seine sehr spezielle Art von nationalistischer Moralisierung als für seine theatralischen Produktionen. Er ist das Subjekt von zahlreichen Memes, die im Internet zirkulieren und wird dort als "Moralpolizist" bezeichnet.

Als wir mit unserem Wasser wieder beim Eingang angelangt sind, begannen die Platzanweiser die Leute in das Theater hineinzuführen; die Lichter erloschen und wir wurden angewiesen, unsere Telefone auf lautlos zu schalten und keine Fotos oder Videos zu machen. Im Gegensatz zu Sobhys Version treten in Hegabs Carmen keine Stars in den Hauptrollen auf. Die Rollen von Don José und Carmen werden sogar immer wieder zwischen den Schauspielern und Schauspielerinnen hin und her gewechselt. So haben wir am Ende des Stücks ungefähr vier verschiedene Versionen von Carmen und José gesehen. Die Schauspieler und Schauspielerinnen aus Hegabs Inszenierung sind ausserhalb der kulturellen sozialen Netzwerke nicht besonders bekannt. Viele von ihnen üben neben der Schauspielerei noch andere Berufe aus – so ist das auf der Facebook-Seite nachzulesen.

Einige der musikalischen Nummern führen die Schauspieler und Schauspielerinnen live auf Arabisch auf, in anderen Teilen hingegen ertönen Aufnahmen der Musik des Stückes aus Lautsprechern, während die Schauspieler und Schauspielerinnen über die Musik hinweg sprechen – oder auch nicht. Der Text ist, wie auch in Sobhys Version, in einer Mischung aus formalem Arabisch oder Fusha und dem umgangssprachlicheren Ammeya gehalten.

Ich habe das Stück nie in einer anderen Sprache als auf Arabisch gesehen. Was bei beiden Inszenierungen, der von Sobhy und der von Hegab, auffällt, ist, dass sie die Namen aller Charaktere beibehielten. Vielleicht ist der Name Carmen inzwischen eine Spur populärer geworden als zur Zeit der Erstaufführung in den 90ern, aber ich habe nie einen Ägypter mit dem Namen José getroffen. Diese Tatsache, kombiniert mit der formalen Sprache, die die Charaktere verwenden, erinnert ununterbrochen daran, dass diese Geschichte eine adaptierte Geschichte ist. Das hat mich auch daran gehindert, tiefe Empathie mit den dargestellten Figuren zu entwickeln. Im Nachhinein habe ich mich aber schon gefragt, welchen Einfluss die Zensur darauf hat, welche Arten von Welten existieren dürfen, selbst wenn es sich nur um imaginierte Welten handelt. Dürfte ein ägyptisches Mädchen auf der Bühne als Sexarbeiterin existieren, mit der wir als Publikum Empathie empfinden könnten? Oder darf die Sexarbeiterin eben nur als Carmen existieren?

Während Sobhys Version so etwas wie ein Klassiker der Popkultur geworden ist, insbesondere unter den Leuten, die in den 90er Jahren grossgeworden sind, und auch mehrere Male im nationalen Fernsehen ausgestrahlt worden ist, setzte sich das Publikum unseres Abends eher aus intellektuellen Theater-Szene-Menschen zusammen. 

In Sobhys Version ist nicht Carmens Tod der Höhepunkt des Stückes, sondern die darauffolgende Szene, in der Sobhy eine extrem lange und teilweise widersprüchliche, aber immer leidenschaftliche Rede über Diktatur als eine Bedingung der Menschlichkeit hält. Sein Hauptargument scheint zu sein, dass er nur ein kleiner Diktator ist im Vergleich zu den anderen Diktatoren in der Welt, zeitgenössischen und historischen, und dass das Volk (vermutlich das ägyptische, aber vielleicht meint er alle Araber und Araberinnen) im Unrecht ist, wenn es nicht gegen das grössere Unrecht, den Zionismus, den Imperialismus, die Vereinigten Staaten aufsteht. Auch wenn es an der Oberfläche scheint, dass Sobhy einen revolutionären Ton anschlägt, so liefert er in seinem Stück in Wahrheit eine Schmährede gegen ein Zuviel an Freiheit. Bei ihm ist Carmen weniger eine Person als eine Verkörperung des post-kolonialen Staates. (In der vom Staat sanktionierten Rhetorik wird Ägypten oft als eine schöne Frau dargestellt.) Carmen zahlt den Preis dafür, dass sie José zurückweist; gleichzeitig ist sie aber auch eine Verführerin, die ihren eigenen Untergang herbeiführt, da sie zu viel Freiheit ersehnt. Es passt auch, dass Sobhy diese Rede über ihren Leichnam gebeugt hält. Hegabs Version hingegen verherrlicht Freiheit als etwas verzweifelt Ersehntes und als etwas, wofür mit Blut bezahlt wird. "Du kannst mich töten, aber du kannst mich nicht zwingen, dich zu lieben." Das sind die letzten Worte, die auf der Bühne gesprochen werden. 

Die unterschiedlichen Enden weisen vielleicht auf die unterschiedlichen politischen Momente hin, und auf unterschiedliche Produktionsziele. Während Sobhy einen revolutionären Ton in seiner Schlussrede anschlägt, klingen seine Worte leer und sind in Einklang mit dem staatlich sanktionierten Narrativ: du kannst den Imperialismus kritisieren, aber nicht den Staat. Hegabs Inszenierung hingegen verwendet keine offen politisierte Sprache, es gibt auch keinen Bezug zu Zionismus oder Imperialismus oder zu Hitler oder Mussolini. Hier geht es um nichts anderes als um eine spanische Sexarbeiterin, die von ihrem eifersüchtigen Ex-Geliebten ermordet wird. Aber dieses Mal scheint Carmen mehr Kontrolle über ihr eigenes Narrativ zu haben. Ja, die Karten haben vorausgesagt, dass sie sterben wird. Aber sie stirbt erhobenen Hauptes, und sie ist es, die das letzte Wort hat.

Trotzdem kann ich nicht umhin, auf ein anderes Ende zu hoffen, auf eines, in dem Carmen wie viele andere femmes libres nicht zum Sterben verurteilt wird, sondern ihre Unterdrücker überlebt und glücklich ins hohe Alter tanzt. Man kann nur träumen.

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Gärten und ein gewisses Unbehagen

Meine Freundin Y und ich planten einen Besuch bei den Orman Botanical Gardens in Dokki, Giza, seit wir im vergangenen Jahr gemeinsam dort waren. Nächsten Monat werden wir in eine neue Wohnung ziehen – mit einem sonnigen Balkon, den wir mit Kräutern und Blumen füllen möchten. Und die können wir an der Frühlingsmesse, die in diesen Gärten jeweils im April stattfindet, kaufen. 1875 wurden die Gärten vom Khediven Ismail Pascha als Teil seines Palastes errichtet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie der Bevölkerung zugänglich gemacht.

Aufgrund der "gelben Hitze" konnten wir uns aber nicht vor 6 Uhr abends auf den Weg machen. Während des ganzen Tages schien die Luft schwanger mit Staub, und die Sonne brannte unerbittlich auf den trüben Himmel. Die Winde, die dieses Wetter verursachen, heissen im Arabischen "Khamaseen", was soviel bedeutet wie "fünfzig Tage", denn während fünfzig Tagen wehen sie so heftig und bringen Hitze und Dunst über Ägypten und die Levante. Manchmal werden sie aber auch "Khamaseen" genannt, um auf die biblischen Plagen, die Ägypten zu Moses’ Zeiten heimgesucht haben, zu verweisen. 

Am Eingang zu den Gärten reihten wir uns in die Warteschlange ein, um die Eintrittsgebühr von zwei Ägyptischen Pfund pro Person zu bezahlen, gemeinsam mit einer Menschenmenge aus Frauen, Männern und Kindern. Einige Leute schienen zum Picknicken gekommen zu sein, während andere mit den Ständen beschäftigt waren, an denen alles vom Kaktus bis zu grünen Paprikaschoten verkauft wurde. Dazu kamen noch Bienenzüchter, die Honig anboten, und einige armselige Tierhandlungen, wo Vögel verkauft wurden, Küken, die violett, hellblau, pink, fluoreszierend grün und grellgelb gefärbt wurden, einige gefangene Pfauen, Hühner und Truthähne. 

"Die Pflanzen sehen so müde aus", sagte meine Freundin, als wir endlich den Ständen entlang gingen, an denen eine Vielzahl von Baumsetzlingen ausgestellt waren, die noch keine Früchte trugen. Ich wundere mich oft darüber, wie sich das Wetter auf uns auswirkt und wie nun auch wir uns auf das Wetter auswirken. Auf einer Webseite las ich von den schädlichen Folgen der "Fünfzig Tage" auf alles, von Pflanzen über Autos bis zu den Menschen. Meine Freundin, die an Asthma leidet, hat Mühe mit dem Atmen. Ich habe schreckliche Migränen und das Gefühl, dass etwas Furchtbares geschehen wird, hat sich nach einer unruhigen Nacht in meinem Bauch wie ein Stein festgesetzt.

Aber das Spazieren zwischen dem blühenden Violett, Rosa, Blau, Orange, Gelb, Crème-Weiss und all dem Grün Grün Grün liess uns – wenn auch nur für den Moment – die Erschöpfung des Tages vergessen und ganz in die Magie der Blumen eintauchen. Die botanischen Gärten ähneln einem Labyrinth, mit hölzernen Brücken, die die einzelnen Sektoren des Parks miteinander verbinden, und mit einem schmalen Bach, der sich durch die Grünflächen schlängelt. Auf einer Seite ist er gesäumt von Palmen, auf der anderen von Bambusbäumen, in die Freunde und Liebespaare ihre Initialen und ihre Liebesschwüre eingeritzt haben.

Unter einer dieser Brücken gibt es einen wunderschönen Lotusteich. Wir konnten nicht umhin zu bemerken, dass dessen Wasser ganz mit Plastik bedeckt war. Leere Wasserflaschen, Strohhalme, Verpackungen und anderes sprenkelten auch den mit dem Teich verbundenen Bach. Wir fragten uns, ob  wohl Fische in diesem Wasser lebten. Und als wir die Spiegelungen der Bäume und der Lichter der hoch aufragenden Stadt auf dem Wasser betrachteten, stiegen einige Luftblasen an die Oberfläche. "Welches Lebewesen könnte hier wohl überleben?" Der Himmel über uns hat ein leuchtendes Violett angenommen, schön, aber gefährlich für uns alle, die wir zu atmen versuchen. Plastikposter, die das eine oder andere politische Event ankündigten, waren um uns herum an die Baumstämme geklebt.

Meine Freundin spazierte mit Verwunderung und Aufregung in ihren Augen umher – als gierige Liebhaberin von Blumen war sie auf einer Mission, nämlich eine Blume mit dem Namen Impatiens oder "Fleissiges Lieschen" zu finden. Ihres ist gestorben, als sie auf einer Reise war und ihre Mitbewohnerinnen vergessen haben, es zu giessen. Nach dem Scheitern all meiner früheren Versuche machte mich der Gedanke, es noch einmal mit Pflanzen zu versuchen, nervös. Auf der Suche nach dem "Fleissigen Lieschen" gelangten wir in die Gärtnerei, wo mein Auge auf eine Gruppe von eingetopftem Lavendel fiel. Und gleich daneben einige der begehrten "Fleissigen Lieschen". Ich weiss nicht, was mich meine Haltung gegenüber Pflanzen ändern liess. Vielleicht war es die Freude in Y’s Augen, als wir die "Fleissigen Lieschen" fanden. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas in meinem Zimmer brauchte, das ich jeden Tag giessen muss, etwas ausserhalb meiner selbst, das lebte.

Trotz des Plastiks, der morbid gefärbten Küken, der Hitze und des Getümmels verschaffte mir der Garten und mein neu erworbener Lavendel doch eine Atempause von der Stadt draussen. 

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Frauen, Kameras und Kreativität

Im Oktober 2018 verliess uns eine der Ikonen des ägyptischen Dokumentarfilms, Atteyat El Abnoudy. Sie war stark vom «Dritten Kino» in Lateinamerika beeinflusst gewesen und brachte Elemente dieser Bewegung in die Region. Atteyat El Abnoudy, die früher mit dem Dichter Abdel Rahman El Abnoudy verheiratet gewesen war, machte sich einen Namen durch ihre poetischen Bilder von Gemeinschaften aus ganz Ägypten, viele von diesen ökonomisch und sozial marginalisierte Gruppen. Mit ihren Bildern bewahrte sie die Würde und Anmut der gezeigten Menschen, während sie gleichzeitig die strukturellen Ungleichheiten im sozio-ökonomischen System aufzeigte.

Während der auf ihren Tod folgenden Monate zeigten zahlreiche kulturelle Institutionen, FilmliebhaberInnen und VertreterInnen der kulturellen Szene Retrospektiven ihres Werkes. Obwohl Atteyats Werk vom ägyptischen Mainstream-Kino weitgehend ignoriert wurde, ist sie unter der jüngeren Generation von angehenden FilmemacherInnen sehr bekannt – war sie doch eine der ersten Frauen, die sich einen Platz als Dokumentarfilmerin in Ägypten erobert hatte.

Letzten Dezember meldete ich mich auf eine Einladung für die Teilnahme an einem Workshop für Kreativen Dokumentarfilm. Er wurde vom Internationalen Frauen Film Festival Kairo organisiert, das von der gefeierten Regisseurin Amal Ramsis gegründet worden war. Der Workshop versprach fünf Monate praktischen Trainings.

Als unabhängige Journalistin habe ich bis jetzt hauptsächlich mit Texten gearbeitet, bin aber daran interessiert, eine stärkere visuelle Sprache in meine Arbeit hineinzubringen. Als Frau sehe ich zudem viele Lücken bei den Bildern, die in den Unterhaltungsmedien wie auch im Tagesjournalismus veröffentlicht werden. So ist es beispielsweise äusserst selten, dass bei einer Liebesgeschichte die Perspektive der Frau auf sensible Art und Weise behandelt wird, dass ihr Glück und ihr Genuss gezeigt wird. Wir Frauen sind meistens Opfer oder Femmes fatales oder beides – aber selten einfach Menschen. 

Bis jetzt war dieser Workshop eine überwältigende, aber sehr inspirierende Reise, die ich gemeinsam mit meinen Mitstudentinnen unternehmen konnte. Wir kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen, aus Bildung, Medien, Ingenieurswesen, Literatur, Architektur und Politikwissenschaften. In der 5. Woche des Workshops diskutierten wir darüber, welche Art von Bildern die Welt braucht, Ägypten braucht, wir brauchen. Als Gruppe waren wir uns einig, dass wir Bilder von Frauenkörpern brauchen. «Ich möchte eine Frau sehen, die ihre dunkle haarige Vagina im Spiegel betrachtet.» Und «wir wollen Familien sehen, nicht die perfekten TV-Familien, sondern Menschen in ihrer gesamten Komplexität, ihrer Wärme und auch mit ihren Dysfunktionen.»

Im Workshop übten wir den Umgang mit unseren Kameras, indem wir viele Aspekte unseres Lebens als junge Frauen in Kairo erforschten. Das ging von unseren Erfahrungen mit Liebe und Kummer in der Stadt bis zu den Familien, die wir mit unseren Wohnpartnerinnen und Haustieren gründeten. In unserer Gruppe von jungen Frauen, die alleine in der höhlenartigen Stadt leben, kristallisierte sich fast organisch ein gemeinsames Thema heraus: Mutterschaft. Vielleicht ist das zu erwarten von einer Gruppe junger Frauen, die sich in einem Alter befinden, wo viele die Beziehungen zu ihren eigenen Müttern überdenken. Eine Frau aus unserer Gruppe erzählte, dass sie ihre Mutter erst verstanden hat, nachdem sie ihre eigene Erfahrung mit Ehe und Scheidung gemacht hatte. Eine andere wieder erklärte, dass sie den Händen, die sie und ihre fünf Geschwister grossgezogen hatten, während der Vater im Ausland arbeitete und lebte, Anerkennung zollen will. 

Diese Monate des gemeinsamen Lernens, die vielen, vielen salzigen Kartoffelchips und Coleslaw-Salate, das Herauswagen auf die Strasse und das Teilen von schwierigen Erfahrungen ebenso wie das viele Gelächter haben eine tiefe Beziehung zwischen uns elf Workshop-Teilnehmerinnen und unseren Lehrerinnen geschaffen. Inzwischen sind wir in der Phase des Filmens angelangt, und auch wenn wir keine Vaginas auf den ägyptischen Filmleinwänden sehen werden, scheint es uns gerade jetzt sehr passend, dass die ersten Filme, die wir machen, der Frau gewidmet sind, die uns zur Welt gebracht hat. 

Dies wiederum trifft mit dem Angedenken an das Lebenswerk derjenigen Frau zusammen, die so viel dazu beigetragen hat, Frauen auf die Leinwand zu bringen und deren Stärke und Schönheit zu feiern: Atteyat El Abnoudy.

 

Und hier ein Link zum Film Horse of Mud von Atteyat El Abnoudy.


Foto Blog 6

Erdbeer-Donuts, © Mariam Ibrahim

Foto Blog 5

Regen in Alexandria, © Mariam Ibrahim

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Katzenleben, © Mariam Ibrahim

Foto Blog 3

Ticket des Hanager-Theaters, © Mariam Ibrahim

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Orman Botanical Gardens, © Mariam Ibrahim

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Filmen vor Ort in Alexandria, © Jocelyn Abi Gebrayel