Enrico Deaglio

Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika

Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika ist ein wirklich eindrücklicher Text. Und es ist eine wahrhaft schreckliche Geschichte, die sich 1899 in Tallulah abgespielt hat, als fünf sizilianische Landarbeiter und Gemüsehändler von ihren Kunden und Nachbarn gelyncht wurden. Enrico Deaglio nimmt uns nicht nur auf eine Reise nach Louisiana in der Zeit nach der Niederlage der Südstaaten im Bürgerkrieg gegen den Norden der Vereinigten Staaten, sondern auch in das Italien Garibaldis und in das von Armut geprägte Sizilien mit. Was hat die sizilianischen Männer zum Auswandern in die USA getrieben und auf welche Gesellschaft sind sie dort gestossen? Gerade erst ist dort die Sklaverei verboten worden, doch die Plantagen existierten weiter, ebenso wie die Suche nach billigen Arbeitskräften, die die unglaublich schwere Arbeit, die früher den Sklaven aufgebürdet wurde, ausführen würden. In Sizilien ist die Hoffnung auf eine grundlegende Reform, die den Bauern ein eigenes Stück Land ermöglichen würde, zerschlagen worden. Die Leute in Sizilien haben sich gewehrt und demonstriert – für die neue Regierung ein Grund, deren Auswanderung zu fördern. Doch welche Verantwortung hat eine Regierung für ihre ausgewanderten BürgerInnen? Und wie könnten sie diese vielleicht sogar schützen? In welche philosophisch-ideologische Strömungen hat sich der damalige Rassismus eingebettet und wer hat ihn aus welchen Gründen übernommen und gar weitergeführt?

Enrico Deaglios überaus spannendes Buch nimmt uns mit auf eine Reise in das letzte Jahrhundert, stellt aber Fragen, die auch heute sehr aktuell sind. Auswanderung, Ausgrenzung, Rassismus und Nachbarn, die zu einem mordenden Mob werden. cn

Klappentext:

In einer heissen Nacht im Juli 1899 war das unbekannte Städtchen Tallulah – ein winziger Fleck auf der Landkarte der Neuen Welt – Schauplatz einer kollektiven, grundlosen und grausamen Lynchjustiz. Der Auslöser? Eine Ziege, die sich am Gras des Nachbargartens gütlich hielt, machte den weissen Gartenbesitzer so wütend, dass er das Tier erschoss. Daraufhin kam es zu einer grösseren Schiesserei. Unmittelbar fand sich eine weisse Menschen­menge zusammen und lynchte in einer Kollektivvergel­tung fünf Menschen. Bei denen handelte es sich nicht um "Neger", wie es in jenen Gegenden gang und gebe war, sondern um sizilianische Bauern, alle aus ein und derselben Familie, die aus der sizilianischen Stadt Cefalù ausgewandert waren. Vergeblich verlangte die italienische Regierung nach Erklärungen, erhielt jedoch eine finanzielle Wiedergut­machung. Damit war für die Amerikaner die Sache erledigt.

Deaglio folgt den Fährten einer literarischen Wahrheit, erforscht die Orte des Geschehens, gräbt Bruchstücke von Erinnerungen und zu archäologischen Fundstücken gewordene Zeugnisse aus, umreisst die menschlichen Konturen einer allumfassenden Gewalt. Doch Hinweis um Hinweis, Spur um Spur, weitet sich diese Geschichte zwangsläufig und enthüllt so, in jenem kollektiven Ver­brechen nur die Zuspitzung eines sehr viel breitgefä­cherten Szenarios. Hier war eine Wirtschaftsmacht am Werk, die eine neue "verfluchte Rasse" brauchte und eine solche in den schlechtbeleumundeten sizilianischen Arbeitern ("Dagos") fand, eine Rasse, die die Stelle der befreiten Sklaven auf den Pflanzungen und Feldern einnehmen sollte. Eine transozeanische Deportation, die zu Zeiten Garibaldis konzipiert und von rassistisch gesinnten Wissenschaftlern, Landbesitzern, Regierenden während des Risorgimento befeuert wurde, welche allesamt von ihrem neuen Volk erschreckt waren, ein geheimes Zeugnis der Geburt eines neuen Italiens.

Enrico Deaglio rekonstruiert mit erzählerischer Kraft und der journalistischen Bravour eines Truman Capote diesen Fall von Lynchjustiz, der sich 1899 einige hundert Kilo­meter nördlich von New Orleans zutrug und wie ein film­reifer Thriller beim Lesen Gänsehaut erzeugt.

Hier ein Interview mit Enrico Deaglio in der Frankfurter Rundschau vom 21. Mai 2019.

Und hier eine Rezension von Maike Albath in der Süddeutschen Zeitung.

Über die Autorin / über den Autor:

Enrico Deaglio (1947 Turin) ist eine wahre Kämpfernatur, wie man realitätsnahe, engagierte Idealisten früher nannte. Seine Medizinerkarriere begann er in einer Turiner Notfallambulanz; in der FIAT-Stadt gehörte er zu den Mitbegründern (neben Erri de Luca, Massimo Carlotto u.v.a.) des kämpferischen Bündnisses Lotta Continua, das sich in den fernen 60er/70er Jahren für den gemeinsamen Kampf rebellierender Studenten und Industriearbeiter einsetzte. Für die gleichnamige Tageszeitung (Lotta Continua) arbeitete er als Herausgeber, später auch für andere wie La Stampa, in Rom dann für Il Manifesto, Panorama und für die Kulturwochenzeitung Diario. Sein erstes, auch ins Deutsche übersetzte Buch Die Banalität des Guten. Geschichte des Hochstaplers Giorgio Perlasca, der 5200 Juden das Leben rettete wurde auch zu einem Drehbuch für den meist gerühmten italienischen Fernsehfilm Perlasca, an Italian Hero (jetzt Netflix) und ein internationaler Erfolg. Unter seinen insgesamt 20 Büchern ist auch das dreibändige Werk Patria (2018), eine monumentale Sozialgeschichte des zeitgenössischen Italien von 1967-2010. Der nächste und letzte Band über die Jahre 2010-2019 wird Ende dieses Jahres erscheinen. Deaglio hat viele Jahre lang über die USA berichtet, unter anderem über die AIDS-Epidemie und den ersten und zweiten Golfkrieg. Inzwischen lebt er in San Francisco, zusammen mit seiner Frau Cecile, deren Familie in Louisiana die wichtigste Informationsquelle für seinen Essay Storia vera e terribile tra la Sicilia e l'America ist.

Interview

Interview.pdf 446,12 kB

Hier ein Interview, das Der Freitag im Mai 2019 mit Enrico Deaglio über die italienische Arbeiterbewegung und Rassismus geführt hat.

Preis: CHF 32.50
Sprache: Deutsch (aus dem Italienischen von Klaudia Ruschkowski)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2019
Verlag: Edition Converso
ISBN: 978-3-9819763-1-1
Masse: 207 S.

zurück